Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Erster Band. Die allgemeinen Lehren und das Recht der Forderungen. (1)

346 Buch J. Abschnitt 6. Eigenmächtige Rechtsausübung. 
schnitt über das Eigentum gestellt haben. Auch erwäge man den häufigen Fall, daß der 
Besitzer der Sache einerseits und der angeblich Gesährdete oder der hülfsbereite Dritte andrer- 
seits über das Vorhandensein und die Dringlichkeit der Gefahr verschiedner Meinung sind; 
sollie das Gesetz es wirklich gestatten, daß der Gesähr dete und der Dritie die Richtigkeit ihrer 
Meinung gegen den Besitzer im Wege des Faustkampfs erhärten und, wenn es nicht anders 
geht, den Besitzer töten dürfen? 
b) Die Selbstverteidigung gegen gefahrdrohende Sachen wird in einer 
einzigen Beziehung anders behandelt als die Notwehr: sie ist nämlich unstatt- 
haft, wenn das Ubel, das durch die Selbstverteidigung entsteht, unverhältnis- 
mäßig größer ist als die von der Sache drohende Gefahr. 
Beispiele. I. Die teure Doage des A. fällt den wertlosen Pinscher des B. an; um 
den Pinscher zu retten, schießt B. die Dogge tot. II. Der große Karpfenteich des C. droht 
dem kleinen Felde des D. eine Uberschwemmung; um das Feld zu schützen, durchsticht D. 
den Damm, der den Abfluß des Teichs nach der andern Seite hemmt, und zerstört damit 
den Teich vollständig. Hier ist sowohl zu 1 wie zu II der Schaden, den die Selbsthülfe mit 
sich bringt, unvergleichlich größer als der Nutzen, den sie schafft; dennoch ist sie zu 1 recht- 
mäßig, zu II nicht. Denn zu! ist sie (was freilich bestritten) „Notwehr“ gegen einen rechts- 
widrigen Angriffb, zu II ist sie „Selbstverteidigung“ gegen eine gefahrdrohende Sache. 
c) Im übrigen wird die Selbstverteidigung gegen eine gefahrdrohende 
Sache gerade ebenso behandelt wie die Notwehr. So muß (obschon dies im 
Gesetz nicht ausdrücklich gesagt ist) die Gefahr, die die Sache droht, dem Ge- 
fährdeten gegenüber objektiv rechtswidrig sein. Ferner: die Selbstverteidigung 
ist statthaft, auch wenn Zeit und Gelegenheit vorhanden war, obrigkeitliche 
Hülfe gegen die Gefahr zu erlangen. Ferner: nicht bloß der Gefährdete selber, 
sondern auch jeder Dritte kann die Verteidigungshandlungen vornehmen. 
Ferner: die Selbstverteidigung ist auch dann rechtmäßig, wenn der Gefährdete 
oder der hülfsbereite Dritte die Gefahr, die abgewehrt werden soll, selber ver- 
schuldet hat 0 usw. 
3. Der dritte Fall ist der des Notangriffs oder, wie das bürgerliche 
Gesetzbuch wenig bezeichnend sagt, der Fall der Selbsthülfe. Er setzt vor- 
aus, daß der Berechtigte ohne sofortiges Eingreifen Gefahr läuft, die Aus- 
übung seines Rechts vereitelt oder wesentlich erschwert zu sehn. Alsdann darf 
der Berechtigte, um sich zu sichern, eine beliebige Sache wegnehmen. Er darf 
ferner eine fremde Sache beschädigen oder zerstören. Er kann endlich auch 
Gewalt gegen die Person des Verpflichteten anwenden, wenn dieser einer 
Handlung des Berechtigten, die er zu dulden hat, Widerstand entgegensetzt. 
Ja, er kann den Verpflichteten, wenn dieser fluchtverdächtig ist, sogar ver- 
haften (229). 
a) Der Notangriff ist wie die Notwehr wegen jedes beliebigen Rechts und 
zur Abwehr gegen jede Art von Gefahr gestattet. Von der Notwehr ist er 
trotzdem scharf geschieden; denn er setzt keinen Angriff des Gegners voraus. 
Vielmehr ist es der Berechtigte selber, der zum Angriff übergeht. 
5) Siehe oben bei Anm. 3. 
6) Abw. Liszt, Deliktsobligationen S. 94. Siehe übrigens unten zu II, 2.
	        
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