Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Erster Band. Die allgemeinen Lehren und das Recht der Forderungen. (1)

24 Buch I. Abschnitt I. Die Rechtsregeln. 
wir werden uns diesem Sprachgebrauch unbedenklich anschließen, soweit nicht 
Mißverständnisse von ihm zu besorgen sind. 
IV. Für die Rechtsquellen selber gibt es Rechtsregeln im gewöhnlichen 
Sinn nicht. Denn, wenn es solche Regeln gäbe, müßte ja wieder für sie nach 
einer noch weiter zurückliegenden Rechtsquelle gesucht werden. Vielmehr liegen 
die Rechtsquellen, da das Recht aus ihnen entspringt, selber jenseits alles. 
Rechts, in dem Boden nackter, unjuristischer Tatsachen.5. Demgemäß hat die 
folgende Skizze einer Theorie der Rechtsquellen nur die Bedeutung, daß sie 
schildert, nicht etwa wie die Rechtsquellen nach irgend einer angeblichen 
Rechtsvorschrift beschaffen sein sollen, sondern wie sie tatsächlich zurzeit be- 
schaffen sind. 
Wenn ich also demnächst berichten werde, daß ein Reichsgesetz zwar durch ein andres 
(süngeres) Reichsgesetz oder durch eine Reichsgewohnheit, nicht aber durch ein Landesgesetz. 
oder eine Landesgewohnheit abgeändert werden kann — es sei denn, daß es eine landes- 
rechtliche Abänderung seiner Regeln besonders gestattet — so will ich damit nur mitteilen, 
erstlich, daß die Reichsgesetze den Vorrang vor den Landesgesetzen und Landesgewohnheiten, 
nicht aber auch vor den Reichsgewohnheiten tatsächlich für sich in Anspruch nehmen, zweitens, 
daß sie tatsächlich zurzeit die Macht haben, den Vorrang vor den Landesgesetzen und 
Landesgewohnheiten mit Erfolg zu behaupten. Anders ausgedrückt: die Ranggleichheit der 
Reichsgesetze und Reichsgewohnheiten ebenso wie der Vorrang der Reichsgesetze vor den 
Landesgesetzen und den Landesgewohnheiten ist nicht eine Rechts-, sondern eine Tat= und 
Machtfrage. — Beispiele. I. Ich fingiere, daß in einem Prozeß das Zivilplenum des Reichs- 
gerichts eine bestimmte bisher von allen Oberlandesgerichten und auch von einigen Senaten 
des Reichsgerichts anerkannte, einem Reichsgesetz widersprechende Reichsgewohnheit mit der 
Motivierung verwirft, Reichsgesetze könnten durch Reichsgewohnheiten nicht abgeändert 
werden. Hier ist die Plenarentscheidung, obschon falsch motiviert, doch im Ergebnis richtig: 
denn sie beweist ja durch ihr eignes Dasein unzweideutig, daß die konkrete Reichsgewohnheit, 
die in dem Prozeß streitig war, tatsächlich nicht mächtig genug ist, um das widersprechende 
Reichsgesetz zu verdrängen. Sollte es nun aber geschehn, daß die der Plenarentscheidung 
beigegebene Motivierung in der Praxis allgemeine Beachtung findet und die Untergerichte 
fortab mit Strenge allen Reichsgewohnheiten die Folge versagen, so wäre damit von nun 
ab auch die Motivierung der Entscheidung als richtig dargetan: denn es stände ja nunmehr 
fest, daß nicht bloß jene eine konkrete damals streitig gewesene Reichsgewohnheit, sondern 
daß die Reichsgewohnheiten überhaupt tatsächlich nicht die Macht haben, ein abweichendes 
Reichsgesetz zu beseitigen. II. Gerade umgekehrt: ich fingiere, daß die Amts= und die Land- 
gerichte eines gewissen Bezirks eine Rechtsübung dauernd festhalten, obschon sie unstreitig 
einem Reichsgesetz zuwider ist; das zuständige Oberlandesgericht und das Reichsgericht kann 
nicht eingreifen, da es sich durchweg um Fragen handelt, die über die Zuständigkeit der 
Amtsgerichte in erster Instanz nicht hinausgehn. Damit ist unzweideutig bewiesen, daß in 
diesem Bezirk der Vorrang der Reichsgesetze vor den Landesgewohnheiten tatsächlich nicht 
in Geltung ist, also auch nicht zu Recht besteht. 
6) Siehe die 3. Aufl. dieses Buchs § 10 Nr. 1, 3, 4; Sturm, Revision d. Lehre vom 
Gewohnheitsrecht S. 276; Krückmann, Jahrb. f. Dogm. 38 S. 202; Leonhard S. 47. 
Anders Crome 1 §. 17°, Endemann 1 § 9 17, ½.
	        
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