Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Erster Band. Die allgemeinen Lehren und das Recht der Forderungen. (1)

418 Buch II. Abschnitt 1. Das Recht der Forderungen im allgemeinen. 
Beispiele. I. A. hat seinem Bruder B. von 03 bis 09 alljährlich ein verzinsliches 
Darlehn geben müssen; das erste Mal (03) gab er es dem B. allein, die folgenden sechs Male 
mußte Frau B. sich als Mitschuldnerin verpflichten; das zweite Mal (04) setzte er den 
Zinsfuß auf 5, die andern Male auf 4% fest; die drei ersten Darlehne (C3, 04, 05) sollten 
10, die beiden folgenden (06, 07) sollten 11, das vorletzte (08) sollte 12, das letzte (09), das 
nur für einen Fall vorübergehenden Bedarfs bestimmt war, sollte schon Ende 09 rückzahlbar 
sein; nun macht B. im Jahre 11 auf seine Schuld eine große Abschlagszahlung. Hier ist 
die Zahlung zuerst auf die Darlehne von 03—07 und von 09 zu verrechnen: denn die 
Darlehnsschuld von 08 wird erst 12 fällig. Unter den erstgenannten Darlehnen nimmt 
das älteste von O3 den ersten Rang ein, nicht weil es das älteste, sondern weil es in Er- 
manglung eines Mitschuldners für A. am wenigsten sicher ist. Von den übrigen Darlehnen 
steht an erster Stelle das von 04, weil es durch seinen hohen Zinsfuß für B. am lästigsten 
ist. So bleiben schließlich noch die Darlehne von 05—07 und von 09 übrig; unter ihnen 
hat den Vorrang das jüngste von 09, weil es am frühesten fällig wurde; die drei andern 
Darlehne haben gleichen Rang. II. C. hat zwei fällige Darlehnsschulden gegenüber D., von 
denen die eine durch eine Hypothek gesichert ist, während die andre solcher Sicherung darbt, 
aber laut notariellen Schuldscheins des C. sofort vollstreckt werden kann; außerdem hat C. 
versprochen, noch vor den Darlehnsschulden eine alte Spielschuld an D. abzutragen; 
nun macht er eine kleine Zahlung „a conto“. Hier hat den Vorrang die mindest sichere 
Schuld. Das ist nicht etwa die Spielschuld, weil diese überhaupt keine Schuld im Rechts- 
sinn ist.? Ob aber die hypothekarisch gedeckte oder die durch die vollstreckkbare Urkunde ver- 
briefte Schuld sicherer ist, läßt sich nur im Einzelfall bestimmen. 
Nach Ortmann soll eine Forderung mit kurzer Verjährung minder sicher sein als eine 
Forderung mit langer," Verjährung, also den Vorrang vor ihr haben. Nach meiner 
Meinung hat umgekehrt die letztere Forderung den Vorrang; denn die Verjährbarkeit einer 
Forderung hat nichts mit ihrer „Sicherheit“ für den Gläubiger zu tun, wohl aber mit ihrer 
„Lästigkeit“ für den Schuldner. 
Praktisch gestaltet sich das Anrechnungsverfahren wie folgt: I. Der Gläubiger macht 
irgend eine Forderung geltend und beweist sie im Streitfall. II. Nunmehr macht der 
Schuldner irgend eine Leistung geltend, die an und für sich als Erfüllung der Forderung 
angesehn werden könnte und beweist sie im Streitfall. III. Hierauf führt der Gläubiger 
an, daß ihm gegen den Schuldner noch andre fällige Forderungen zustehn, auf die jene 
Leistung verrechnet werden müßte, und beweist diese Forderungen und ihren Vorrang vor 
der zuerst geltend gemachten Forderung.3 — Steht die Leistung des Schuldners und eine 
Mehrheit von fälligen Forderungen des Gläubigers, auf die die Leistung angerechnet werden 
kann, fest, so muß die Anrechnung so lange auf alle Forderungen verhältnismäßig ge- 
schehn, bis der Gläubiger oder der Schuldner den Vorrang einer einzelnen dieser Forde- 
rungen beweist. 
b) Hat ein Schuldner an seinen Gläubiger außer der Hauptleistung Zinsen 
und Kosten zu entrichten, so wird eine Leistung, die nicht zur Tilgung der 
ganzen Schuld ausreicht, zunächst auf die Kosten, dann auf die Zinsen und 
erst in letzter Reihe auf die Hauptleistung angerechnet (367 —I). 
Beispiel. A. hat dem B. 05 ein Darlehn von 1000 Mk. zu 5% und 66 ein gleich 
hohes Darlehn zu 6 %, beide rückzahlbar am 1. Oktober 09, gegeben; am letzteren Tage sind 
beide Kapitalien mit halbjährigen Zinsen, also 1000 +— 25—+ 1000 + 30 = 2055 Mk. fällig; 
B. zahlt aber nur 1015 Mk. Hier ist diese Zahlung nach der Regel zu a #zunächst auf das 
dem Schuldner lästigere, weil höher verzinsliche Darlehn mit 1030, der Rest von 15 Mk. 
ist nach der Regel zu b auf die Zinsen des andern Darlehns zu verrechnen. Ergebnis: A. 
hat aus dem ersten Darlehn noch 1000 Mk. nebst laufenden 5% Zinsen sowie einen Zins- 
rückstand von 10 Mk. zu fordern. 
  
7) Siehe R. 60 S. 291. 7a) Ortmann Anm. 4 zu s§ 366. 
8) R. 55 S. 414.
	        
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