Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Erster Band. Die allgemeinen Lehren und das Recht der Forderungen. (1)

34 Buch I. Abschnitt 1. Die Rechtsregeln. 
wie dem Reichsgesetzes= und Reichsgewohnheitsrecht; denn es hat sich seit jeher 
als beiden ebenbürtig erwiesen. Das wissenschaftliche Reichsrecht wirkt also- 
nicht bloß „praeter“, sondern auch „contra legem“ gerade wie das Reichs- 
gewohnheitsrecht. Doch ist wie diesem so auch ihm die Bildung überaus. 
schwer gemacht, sobald sie contra legem geschieht. Der Grund ist: 
1. für das Recht der Analogie, daß es sich seinem Wesen nach eng an 
das geltende Recht anschließt, 
2. für das aus den Bedürfnissen des Rechtslebens geschöpfte Recht, daß 
es gerade eines der wichtigsten dieser Bedürfnisse ist, alles zu vermeiden, was 
die Autorität des Gesetzes= und Gewohnheitsrechts zu erschüttern vermag: ein 
einfältiges aber sicheres Recht ist immer noch besser als ein verständiges aber 
ungewisses Recht! 
Daß sich trotzdem unter besondern Umständen ein Recht der Wissenschaft auch „eontra 
legem“ bilden kann, mögen folgende Beispiele zeigen: I. Ein Witwer, der bei seinem Tode 
an Verwandten einen Sohn, einen von diesem Sohn abstammenden Enkel und einen Bruder 
hinterläßt, hat ein Testament errichtet, in dem als einzige Bestimmung die Enterbung des 
Sohnes ausgesprochen ist. Für diesen Fall ist reichsgesetzlich verordnet, daß der Testator 
nicht von seinem Enkel, sondern von seinem Bruder beerbt wird (1924 II, 1925, 1930, 1938). 
Doch ist im Widerspruch hierzu aus der Analogie einer andern reichsgesetzlichen Bestimmung 
(1953 II) zu folgern, daß nicht der Bruder, sondern der Enkel Erbe wird. II. Ein junger 
Bursche hat mit einigen Gehilfen auf einem fremden Weinberge unbefugtermaßen Weinlese 
gehalten; als er von dem Eigentümer des Weinberges auf Herausgabe der Trauben belangt 
wird, wendet er ein, daß sein Vater ihm gegen irgendein Entgelt die Weinlese „gestaitet“ habe; 
auf die Gegenfrage, wie der Vater dazu komme, erklärt er glaubhaft, sein Vater habe ihm 
gesagt, daß der Weinbergseigentümer ihm die Trauben auf dem Stock verkauft und ihn dabei. 
zur Abhaltung der Weinlese ermächtigt habe; an der Richtigkeit dieser Mitteilung zu zweifeln, 
habe er keinen Anlaß gehabt. Hier ist der Bursche nach Gesetzesvorschrift (957) im Recht: 
denn nach dieser Vorschrift erlangt, wer unbefugtermaßen die Früchte einer fremden Sache 
zieht, mit der Besitznahme der Früchte deren Eigentum, sobald nur irgendeine andre Person, 
die ebenso unbefugt sein kann wie er selbst, es ihm „gestattet“ hat. Nun fügt der Para- 
graph freilich eine Ausnahme für den Fall hinzu, daß der Gewinner der Früchte bei der 
Besitznahme nicht in gutem Glauben war, d. h. daß er gewußt oder nur aus grober Fahr- 
lässigkeit nicht gewußt hat, die „andre“ Person sei zur Gestattung nicht befugt gewesen; indes 
ist klar, daß die Voraussetzungen dieser Ausnahme in unserm Fall nicht notwendig erfüllt 
sind; denn ein junger Bursche begeht nicht immer eine grobe Fahrlässigkeit, wenn er seinen 
Vater irrtümlich für einen anständigen, zuverlässigen Menschen hält; dazu kommt, daß die 
Beweislast in Ansehung seines guten Glaubens nicht den Burschen, sondern die Gegenpartei 
trifft. Ich meine nun aber, daß wir uns einfach lächerlich machen würden, wenn wir dem 
Burschen recht gäben. Ich bilde deshalb aus dem Bedürfnis des Rechtslebens heraus in 
bewußtem Widerspruch zu den geltenden Reichsgesetzen die Norm, daß die Gestattung, von 
der das Gesetz spricht, in unserm Fall nur von dem erteilt werden kann, der den Weinberg 
— rechtmäßig oder unrechtmäßig — im Besitz hat oder der wenigstens von dessen Besitzer 
ermächtigt ist, die „Gestattung“ zu erteilen. 
Die Erwähnung solcher Beispiele wie der vorgenannten ist immer mißlich. Denn ihre 
Beweiskraft ist gering. Wer nun einmal nicht glauben will, daß das Recht der Wissenschaft 
auch „contra legem“ wirke, braucht ja bloß die in den Beispielen aufgeworfenen Fragen 
anders zu entscheiden als ich — vielleicht mit dem Zufügen, daß er de lege ferenda ebenso 
denke, aber doch nach der lex lata nicht ebenso entscheiden könne wie ich. Oder er ent- 
scheidet geradeso wie ich, leugnet aber ängstlich, daß er dabei „contra legem“ handle, und 
behauptet, daß er mit seiner Entscheidung nur den wahren Sinn des Gesetzes zu Ehren bringe.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.