Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Erster Band. Die allgemeinen Lehren und das Recht der Forderungen. (1)

§ 11. Recht der Wissenschaft. § 12. Gesetzesinterpretation. 35 
Damit täuscht er aber sich selbst und jeden, der ihm glaubt. Richtig ist vielmehr, daß die 
gesetzgebenden Organe die Tragweite der eben besprochenen Gesetzesstellen falsch gewürdigt haben 
Jedem andern Juristen, so scharfsinnig er sein mag, passiert bei seinen juristischen Behaup- 
tungen das nämliche alle Tage; alsbald sieht er aber, wenn er wirklich scharfsinnig ist, sein 
Umeccht ein und widerruft, wenn er nicht bloß scharfsinnig, sondern auch ehrlich ist, seine 
Behauptung. Dem Gesetzgeber wird aber der Widerruf minder leicht, da er ja nur schwer- 
sällige Arbeit kennt. Soll nun der Irrtum des Gesetzgebers, wenn er, wie hier, klar zutage 
liegt, in der Zwischenzeit Gesetzeskraft behalten? Soll wirklich jedesmal, wenn der Gesetz- 
geber „vorbeigedacht“ hat, der mühsame Apparat der ganzen Gesetzgebungsmaschine spielen, 
um seine falschen Gedanken richtig zu stellen? 
II. Ermittlung und Auslegung der Rechtsregeln.1 
12. 
I. Wird über eine Rechtsfrage die Entscheidung der Gerichte oder einer 
andern Behörde begehrt, so hat die angerufene Behörde die maßgebenden 
Rechtsregeln von Amtswegen zu ermitteln. Es ist also nicht etwa Sache 
der beteiligten Privatpersonen, ihrerseits der Behörde die Rechtsregeln nachzu- 
weisen. Nur für Regeln des ausländischen Rechts, des Gewohnheitsrechts 
oder des Statutarrechts darf die Behörde von den beteiligten Parteien nähere 
Nachweise fordern (8PO. 293) und kann sie, falls sie den geforderten Nach- 
weis nicht erbringen, mit ihren Ansprüchen abweisen.? 
II. 1. Die Ermittlung einer Rechtsregel besteht nicht bloß in der Fest- 
stellung des Wortlauts einer Rechtsformel, sondern zugleich in der Feststellung, 
welchen Sinn die Formel hat: die Formel ist also „auszulegen"“. Und zwar 
darf der Ausleger nicht an dem Wortlaut der Formel kleben, sondern muß 
über diesen Wortlaut hinaus, ungenau oder unklar wie er oft genug gefaßt 
ist, in die wirkliche Bedeutung der Regel einzudringen suchen; dabei ist 
namentlich der Zusammenhang der Regel mit dem sonstigen geltenden Rechts- 
system und außerdem der Zweck, den die Regel erkennbar verfolgt, zu beachten. 
So kann es kommen, daß man eine Regel auf Fälle anwendet, für die ihr 
Wortlaut nicht paßt, oder umgekehrt, daß man sie auf Fälle, die ihr Wortlaut 
mitumfaßt, nicht anwendet: ausdehnende (extensive) oder einschränkende 
(restriktive) Interpretation. 
Beispiele. I. Nach dem BGB. sollen, wenn jemand im Namen eines andern ein ein- 
seitiges Rechtsgeschäft gegenüber einem dritten vornimmt, ohne für den andern Vertretungs- 
macht zu haben, die Regeln über „Verträge" entsprechende Anwendung finden, sofern der 
drine „die von dem Vertreter behauptete Vertretungsmacht bei der Vornahme des Rechts- 
geschäfts nicht beanstandet“ (180). Dies ist ausdehnend dahin auszulegen, daß der Bean- 
standung „bei“ der Vornahme des Rechtsgeschäfts eine Beanstandung „unverzüglich nach“ 
der Vornahme gleichzustellen ist (s. 174). II. Nach dem BE#B. ist eine Willenserklärung, 
1) Danz in Grünhuts Ztschr. 24 S. 611; Saleilles, introd. à Détude du droit civil 
allemand (04) S. 88. 
2) RG. 21 S. 177; Zitelmann 1 S. 289. 
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