Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Erster Band. Die allgemeinen Lehren und das Recht der Forderungen. (1)

52 Buch I. Abschnitt 1. Die Rechtsregeln. 
60) Hat ein Ehepaar vor dem 1. Januar 1900 geheiratet, so wird nach 
diesem Datum ihr eheliches Güterrecht in den meisten deutschen Rechtsgebieten 
weder nach den bisherigen noch nach den neuen Gesetzen, sondern nach einem 
vermittelnden eigens für derartige Ehen geschaffnen Überleitungsrecht beurteilt 
(preuß. AG. 44 ff.). 
)) Ist ein Erblasser, der vor 1900 ein Testament errichtet hat, nach 
diesem Datum gestorben, so wird die Gültigkeit des Testaments lediglich nach 
dem bisherigen, seine Wirksamkeit im einzelnen lediglich nach den neuen Gesetzen 
bestimmt (EG. 213, 214). 
3. Wenn eine spezielle Übergangsvorschrift, im Widerspruch zu unserm 
Prinzip, einem neuen Gesetz rückwirkende Kraft beilegt, ist diese Rückwirkung 
im Zweifel nur auf schwebende, nicht aber auf bereits erledigte Rechtsfragen 
zu beziehn.!? Demnach kann, wenn eine unter der Herrschaft des alten Rechts 
entstandene Schuld von einem neuen Gesetz rückwirkend für ungültig erklärt 
wird, der Schuldner nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes zwar die 
Erfüllung der Schuld verweigern, nicht aber, falls er die Schuld bereits unter 
der Herrschaft des alten Rechts erfüllt hat, das Geleistete zurückfordern. Daß 
ein gleiches auch für Rechtsfragen gelten müsse, die unter der Herrschaft des 
alten Rechts bereits rechtshängig geworden, rechtskräftig entschieden 11 oder durch 
Anerkenntnis oder Vergleich geregelt sind, läßt sich nicht oder doch nur sehr 
beschränkt zugeben. 7 
IV. 1. Ist nach den maßgebenden Übergangsvorschriften auf eine Rechts- 
frage altes Recht anzuwenden, so wenden wir es im allgemeinen kritiklos an, 
ohne Rücksicht darauf, ob es uns zusagt oder nicht. 
2. Doch erleidet diese Regel eine Ausnahme: an Stelle des eigentlich anzu- 
wendenden alten Rechts wenden wir insoweit neues Recht an, als die An- 
wendung des alten Rechts dem offenbaren Zweck der neuen Gesetze 
widerstreitet.13 Ein hierher gehöriger Fall ist der, daß das neue Gesetz 
sich als eine authentische Interpretation des alten Rechts gibt und es sich also 
nicht als Nachfolger, sondern als Ersatz des alten Rechts betrachtet.114# 
3. Vielfach wird noch eine weitere Ausnahme von der Regel zu 1. be- 
hauptet: an Stelle des eigentlich anzuwendenden alten Rechts sei insoweit neues 
Recht anzuwenden, als die Regeln des letzteren zwingend seien.!5 Anders 
ausgedrückt: bei jedem neuen Gesetz verstehe sich die rückwirkende Kraft inso- 
weit von selbst, als seine Regeln zwingend sind. Doch ist diese Behauptung 
unbegründet. Freilich ist es sehr wohl denkbar, daß ein Gesetz einen von ihm 
neu eingeführten Zwang für dringlich genug hält, um ihm rückwirkende Kraft 
zu verleihen. Ebensogut denkbar ist aber auch das Gegenteil. Entscheidet sich 
10) Affolter S. 49. 11) R. 46 S. 67. 
12) Zum Teil abw. Affolter S. 50. 13) Abw. Affolter S. 44. 
14) Crome 1 § 245. Siehe oben § 127. 
15) Rö 47 S. 103, 61 S. 329.
	        
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