Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Erster Band. Die allgemeinen Lehren und das Recht der Forderungen. (1)

§ 14. Rückwirkung neuer Gesetze. Übergangsvorschriften. 53 
also der Gesetzgeber für die Dringlichkeit und damit für die Rückwirkung, so 
genügt es nicht, daß er es still bei sich denkt, sondern er muß es unzweideutig 
erklären. Davon, daß sich die Dringlichkeit und damit die Rückwirkung von 
selbst verstände, kann nicht die Rede sein. 
Dies gilt auch dann, wenn ein neues Gesetz Verträge, die das bisherige Recht zuließ, 
für unsittlich erklärt. Allerdings kann man nicht erwarten, daß solch ein Gesetz die vor 
seinem Inkrafttreten abgeschlossenen Geschäfte geradezu für sittlich halten sollte. Wohl aber 
ist anzunehmen, daß das neue Gesetz, wenn es nicht unzweideutig das Gegenteil erklärt, 
diese Geschäfte, obschon es sie für unsittlich hält, dennoch rechtlich unberührt läßt, aus- 
Achtung vor der abweichenden Meinung des vor ihm geltenden Gesetzes. 
V. Lassen sich die Tatumstände, von denen die Anwendbarkeit des neuen oder des 
alten Rechts auf irgend eine Rechtsfrage abhängt, nicht ermitteln, so ist neues Recht anzu- 
wenden. Denn ein positiver Anlaß dazu liegt schon in dem Umstande, daß das neue Recht 
zurzeit gilt, und ein zwingender Grund, auf die Anwendung des neuen Rechts zugunsten 
des alten zu verzichten, ist nicht vorhanden. Beispiel: Jemand ist in der Sylvesternacht von 
99 auf 00 körperlich verletzt; ob vor oder nach Mitternacht, läßt sich nicht feststellen. 
VI. Soweit das anzuwendende Recht nachgiebig ist, können die Beteiligten für ihre 
Rechtsverhältnisse das intertemporale Recht abweichend regeln, also sich willkürlich sowohl- 
unter der Herrschaft der alten Gesetze dem neuen, als auch umgekehrt unter der Herrschaft 
der neuen Gesetze dem alten Recht unterwerfen; nur für Eheverträge ist ihnen letztere Be- 
fugnis genommen (1433). 
VII. Weitere Einzelheiten wird erst die folgende Darstellung bringen. Sie sind jedem 
wichtigeren Abschnitt dieses Buchs als „Zusatz“ angefügt. 
V. Rüchblick auf das bisherige Recht. 
15. 
I. 1. Der Vorrang der Reichsgesetze vor den Landesgesetzen ist schon seit 
Gründung des norddeutschen Bundes anerkannt, 1 während im alten deutschen 
Reich umgekehrt die Landesgesetze regelmäßig den Vorrang vor den Reichs- 
gesetzen hatten. 
2. Die Beschränkung der Landesgesetze auf diejenigen Teile des bürger- 
lichen Rechts, die der Landesgesetzgebung durch Reichsgesetz besonders über- 
wiesen sind, gilt erst seit Einführung des bürgerlichen Gesetzbuchs. Dagegen 
waren vorher die Landesgesetze nur bezüglich solcher Teile des bürgerlichen. 
Rechts unzulässig, die ihnen durch Reichsgesetz besonders entzogen waren. 
. II. Die grundsätzliche Gleichstellung von Gesetzes= und Gewohnheitsrecht 
ist uralt deutsches Recht. Erst in neuerer Zeit ist sie von der Gesetzgebung 
bekämpft worden. In Betracht kommt hier — außer den formell noch jetzt 
foribestehenden Vorschriften des preußischen Rechts? — namentlich: 
1. die Vorschrift des alten Handelsgesetzbuchs, daß das Handelsgewohn- 
1) Verf. des nordd. Bundes Art. 2. 2) Laband § 59 II, 24. 
3) Siehe oben § 10 hinter Anm. 4.
	        
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