§6 199. Übereignung ohne Übergabe. Besitzkonstitut. 131
Beispiel. A. hat bei dem Spediteur B. 12 Säcke Gerste eingelagert, vereinbart aber
später mit ihm brieflich, daß er ihm die Säcke käuflich überlasse; kurz bevor der Annahme-
brief B.s bei A. eintrifft, werden die Säcke bei B. gestohlen. Hier ist B. nicht Eigentümer
geworden; denn die Übereignung durch bloßen Übereignungsvertrag ist zwar erklärt, aber
wirkungslos, weil B. im entscheidenden Augenblick nicht im Besitz war. Freilich haben so-
wohl A. wie B. einen Herausgabeanspruch gegen den Dieb; doch ist der Anspruch des A.
dem B. nicht abgetreten, und der eigne Anspruch des B. ist für seinen Eigentumserwerb
ohne Belang.
3. Ebendeshalb ist in diesem Fall der maßgebende Zeitpunkt für den
Eigentumsübergang der Augenblick, in dem sowohl der Ubereignungsvertrag
wie das Ersatzgeschäft wirksam geworden sind.
II. Der Übereignungsvertrag (im engern Sinn) unterliegt bei der Über-
eignung ohne Ubergabe den nämlichen Regeln wie bei der Ubereignung durch
Übergabe. Hervorgehoben sei, daß er formlos und sogar stillschweigend ab-
geschlossen werden kann.
Beispiel. A. schreibt an B.: „das von Ihnen bestellte Fernrohr ist heute fertig geworden
und geht morgen an Sie ab“;: B. telegraphiert zurück: „nicht absenden, sondern auf Lager
nehmen, da ich verreise“; A. erklärt sein Einverständnis. Hier ist eine stillschweigende Über-
eignung durch Konstitut anzunehmen.
Ebenso ist es möglich, daß der Vertrag von dem Veräußerer mit sich selbst als Ver-
treter des Erwerbers abgeschlossen wird (181). Beispiel: A. trägt dem B. auf, in eignem
Namen für 10000 Mk. Reichsanleihe zu kaufen und für ihn in Verwahrung zu nehmen;
B. kauft darauf von verschiedenen Personen 26000 Mk. Reichsanleihe, sondert 10000 Mk.
aus und legt sie in einen Umschlag mit der Aufschrift „A.“; hier wird A. durch den letzteren
Vorgang Eigentümer der Papiere.
III. Die Rechtsgeschäfte, die bei der Übereignung ohne Übergabe zum
Ersatz der Übergabe bestimmt sind — Besitzkonstitut und Abtretung des Her-
ausgabeanspruchs —, unterliegen den für das Besitzkonstitut und die Abtretung
von Forderungen im allgemeinen geltenden Regeln. Hervorgehoben sei folgendes.
1. Das Besitzkonstitut ist nur wirksam, wenn die Parteien nicht bloß
über das Konstitut als solches, sondern auch über dessen Rechtsgrund einig
geworden sind.
Die Vorschrift, daß die Parteien sich auch über den Rechtsgrund des Konstituts ge-
einigt haben müssen und also ein „abstrakles“ Konstitut nicht genügt, wird im Gesetz sehr
geschraubt durch die Worte ausgedrückt: die Üübergabe wird dadurch ersetzt, daß zwischen den
Parteien ein „Rechtsverhältnis“ vereinbart wird, vermöge dessen der Erwerber den mittel-
baren Besitz erlangt. — Übrigens ist es sehr zweifelhaft, ob die vorstehende Regel überhaupt
einen praktischen Wert hat; denn ich weiß Beispiele eines abstrakten Besitzkonstituts, die im
Leben wirklich vorkommen, nicht anzuführen. Anders denkt freilich das Reichsgericht darüber.
So hat es im folgenden Fall das Vorhandensein eines gültigen Besitzkonstituts verneint:
A. hat dem B. eine Maschine auf Kredit verkauft und durch Übergabe übereignet; B. gerät
aber mit der Zahlung des Kaufpreises in Verzug; die Parteien vereinbaren nunmehr, daß
das Eigentum der Maschine auf A. zurückübertragen werde und B. die Maschine bis zur
Zahlung des Preises für A. besitzen solle." Ich meine dem entgegen, daß hier der Rechts-
grund des Konstituts mit ausreichender Deutlichkeit und in rechtlich unanfechtbarer Weise
festgesetzt ist. Oder hat es etwa irgendeinen Zweck, zu fordern, daß die Parteien in einem
Fall dieser Art ausdrücklich erklären, B. solle die Maschine als „Leiher“ oder als „Mieter“
oder als „Verwahrer"“ behalten?
2a) MW. 63 S. 16. 3) RG. 49 S. 170, 54 S. 398.
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