780 Buch VIII. Abschnitt 2. Die Berufung zur Erbschaft.
d) Ganz eigenartig war die Verwandtenerbfolge des französischen Rechts; ihr leitender
Grundsatz ging dahin, daß, wenn der Erblasser keine Nachkommen hinterließ, seine Verwandt-
schaft in eine väterliche und eine mütterliche Linie geteilt wurde und jede Linie die Hälfte
des Nachlasses erbte, auch wenn der nächste Angehörige der einen Linie dem Erblasser ent-
fernter verwandt war als der Angehörige der andern Linie.“
2. Knüpft das bürgerliche Gesetzbuch mit der Aufnahme der Parentelen-
ordnung an altdeutsches und neuösterreichisches Recht an, so setzt es sich mit
seiner zweiten Hauptregel — mehrere Verwandte der nämlichen Ordnung erben
in den drei ersten Ordnungen nach Stämmen, von der vierten Ordnung ab
nach Graden — zu beiden Rechten in schroffen Gegensatz. Denn das alt-
deutsche Recht hat die Erbfolge nach Stämmen, nachdem es sie anfangs ganz
verworfen hatte, späterhin nur äußerst beschränkt in der ersten und allenfalls
in der zweiten, sicher aber nicht in der dritten Ordnung anerkannt; umgekehrt
hat das österreichische Recht die Stammeserbfolge auch über die dritte Ordnung
hinaus bis an die äußerste Grenze des gesetzlichen Erbrechts zugelassen." Eben-
sowenig stimmt die Regel des bürgerlichen Gesetzbuchs mit der sonstigen
deutschen Gesetzgebung überein.
a) Das preußische Recht ließ Stammeserbfolge nur für die Nachkommen
des Erblassers und seiner Geschwister zu, während die entfernteren Seitenver-
wandten nach Graden erben sollten; Vorfahren des Erblassers erbten gleich-
falls nach Graden; konkurrierten entferntere Vorfahren mit halbbürtigen Ge-
schwistern oder Geschwisternachkommen (Klasse 4), so erbten die Vorfahren zu-
sammen die Hälfte der Erbschaft.
b) Das bisherige gemeine Recht? beschränkte die Stammeserbfolge noch
mehr: es gestand sie nämlich nur den Nachkommen des Erblassers und, wenn
sie in Konkurrenz mit Vorfahren oder Geschwistern des Erblassers erbten, auch
den Nachkommen ersten Grades seiner Geschwister zu; alle übrigen Seitenver-
wandten erbten nach Graden; Vorfahren des Erblassers erbten nach Graden
und bei Gleichheit des Grades nach Linien, d. h. die Vorfahren der väterlichen
Linie nahmen die eine, die Vorfahren der mütterlichen Linie nahmen die andre
Hälfte der Erbschaft; konkurrierten aber mit den Vorfahren Geschwister oder
Geschwisterkinder, so nahm jeder Vorfahr des nächsten Grades ohne Unterschied
der Linie einen Geschwistererbteil.
e) Das sächsische Recht ließ die Stammeserbfolge in gleichem Umfange zu wie das
preußische; entferntere Seitenverwandte der nämlichen Ordnung erbten nach Graden; Vor-
fahren erbten nach Graden und bei Gleichheit des Grades nach Linien. 10
4) Das französische Recht 11 ließ die Stammeserbfolge gleichfalls in dem Umfange zu
wie das preußische; entferntere Seitenverwandte und Voreltern, wenn sie der nämlichen
(väterlichen oder mütterlichen) Linie angehörten, erbten nach Graden; Eliern in Konkurrenz.
mit Geschwistern oder Geschwisternachkommen erbten je ¼.
6) Genaueres s. c. c. 731 ff.
7) Hübner S. 707, 713; Ssterr. GB. 731ff.
8) Pr. LR. II, 2 88 348, 494, 498; II, 3 88 37, 42, 48.
9) Dernb. 3 § 132. 10) Sächs. GB. 2035, 2036, 2038, 2041, 2043.
11) C. c. 734, 739 f.