8 185. Begriff des Besitzes. 65
4½ Uhr im Besitz der Erben des A., von 4½ Uhr ab im Besitz des B. Daß A.s Erben
die tatsächliche Herrschaft über den Rehbock nie erworben hatten, machte nichts aus; vielmehr
genügte es für ihren Besitzerwerb, daß ihr Rechtsvorgänger A. diese tatsächliche Herrschaft
erworben batte. Ebenso war es zunächst gleichgültig, daß A. nach seinem Fortgange von
der Jagdhütte und die Erben A.3 sogar von Anfang an behindert waren, die tatsächliche
Herrschaft über den Bock auszuüben. Denn das Hindernis war anfänglich ein bloß vorüber-
gehendes: bei regelmäßigem Gange der Dinge war anzunehmen, daß nach Ablauf einiger
Zeit A. selbst oder — als sein oder seiner Erben Vertreter — irgendeiner seiner Haus-
genossen oder Angestellten in der Jagdhütte erscheinen und den Rehbock abholen würde. Erst
als A. starb, war für ihn, und erst als B. sich den Bock aneignete, war auch für die Erben
des A. die Ausübung der tatsächlichen Herrschaft dauernd unmöglich geworden; erst in diesem
Augenblick war also ihr Besitz beendigt. 2. Derselbe Fall; nur hat A. nicht in seinem
eignen, sondern in dem Jagdrevier des C. gepürscht, und zwar als angestellter Jäger des C.
Hier hat A. und haben also auch seine Erben den Besitz des Bocks nicht erlangt; denn A.
h#tden Bock nicht als „Herr“, sondern lediglich im Dienst des C. erlegt und an sich ge-
nommen (s. unten § 1931f). Ergebnis: der Bock war bis 3 Uhr beu#zfrei, von 3—4¼ Uhr
war er im Besitz des C., von 41/ Uhr ab im Besitz des B. II. 1. D. hat am 1. Februar 1910
ein Gut von dessen gegenwärtigem Besitzer und Eigentümer E. für die Zeit vom 1. April
1911 bis 1. April 1929 gepachtet. Hier hat D. am 1. April 1911 zweifellos ein Recht auf
die Pachtherrschaft, aber noch nicht die „tatsächliche“ Pachiherrschaft über das Gut erlangt;
vielmehr wird diese und damit auch der Besitz des Guts ihm erst zuteil, wenn sich sein Necht
auf die Pachtherrschaft verwirklicht, d. h. wenn E. das Gut zu D.s Gunsten tatsächlich
räumt. 2. Wenn F. dem G. die Uhr aus der Tasche stiehlt, hat jener durch diesen seinen
Diebstahl irgendein Recht auf die Herrschaft über die Uhr zweifellos nicht erlangt. Ebenso
zweifellos ist aber, daß er Besitzer der Uhr geworden ist.
Terminologisch ist hier noch folgendes zu bemerken: I. Ungeschickterweise führt das
BGB. den Besitz an einer Sache nicht, wie wir, auf eine tatsächliche „Herrschaft“, sondern
auf eine tatsächliche „Gewalt“ des Besitzers über die Sache zurück (s. 854, 856); und doch
setzt das B#. selber fest, daß eine Gewalt, der der Herrschaftscharakter fehlt, — wir werden
sie später noch genauer unter dem Namen „Inhabung“ kennen lernen — als Grundlage
des Besitzes keineswegs zureicht (s. 855 und unten § 1931). II. Noch ungeschickter ist es,
wenn das BB. zwischen dem Fall, daß jemand die tatsächliche Gewalt über eine Sache
erlangt hat, und dem Fall, daß er sie zwar nicht erlangt hat, aber doch „in der Lage ist,
sie auszuüben“ (854 I, II, s. auch 856 I, II) sorgfältig unterscheidet. Oder würde man
nicht, wenn ein Russe uns erzählte, „er habe zwar die Herrschaft über die deutsche
Sprache noch nicht erlangt, sei aber doch in der Lage sie auszuüben“", ihm erwidern können,
er habe schon durch diesen einen Satz bewiesen, daß das Deutsche noch eine fremde Sprache für
ihn sei? Viel schlichter und verständlicher wäre der Ausdruck: jemand hat die tatsächliche
Herrschaft über eine Sache noch nicht erlangt, ist aber in der Lage, sie ohne erhebliche
Mühwaltung nach Belieben zu erlangen.
b) Aus den Regeln zu a folgt, daß der unmittelbare Besitz einer Sache
mit der tatsächlichen Herrschaft über sie auf das engste zusammenhängt: in ihr
hat er seinen Ursprung; mit ihrem dauernden Fortfall findet er sein Ende.
Doch ist er keineswegs mit ihr identisch. Denn er erlischt ja nicht, wenn die
tatsächliche Herrschaft vorübergehend fortfällt; und will jemand nicht einen
neuen Besitz begründen, sondern nur einen schon begründeten Besitz als Rechts-
nachfolger des ersten Besitzers fortsetzen, so kann er der tatsächlichen Herrschaft
sogar von Anfang an entraten. Es ist demnach irreführend, wenn die
herrschende Meinung den unmittelbaren Besitz geradezu als die tatsächliche
Herrschaft über eine Sache definiert.?
2) Crome 3 S. 13, 15; Biermann S. 3.
Cosak, Bürgerl. Recht, 5. Aufl. II.
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