72 Buch III. Abschnitt 2. Besitz und Inhabung.
genauer die Rede sein wird, ist, daß der Besitzer einer Sache gegen gewisse
Beeinträchtigungen, die er von andern erfährt, lediglich um seines Besitzes
willen rechtlich geschützt wird: das Gesetz gewährt ihm nämlich, wenn eine
solche Beeinträchtigung tatsächlich erfolgt ist, einen Rechtsanspruch gegen
bestimmte Personen, der je nach Lage des Falls auf Herausgabe der
Sache, auf Beseitigung einer verübten Störung, auf Unterlassung fernerer
Störung in der Zukunft usw. geht. Derartige Ansprüche, die dem Besitzer einer
Sache als solchem, also ohne Rücksicht darauf, ob er die Sache rechtmäßig
erworben hat oder nicht, zustehn, nennen wir Besitzansprüche und unter-
scheiden unter ihnen zwei Gruppen, die kurzfristigen und die langfristigen.
a) Die kurzfristigen oder possessorischen Besitzansprüche sind da-
durch ausgezeichnet, daß sie nur binnen Jahresfrist geltend gemacht werden
können und daß der Anspruchsgegner sie nicht unter Berufung auf ein eignes
besseres Recht an der Sache abzuwehren vermag.
b) Für die langfristigen oder petitorischen Besitzansprüche ist die
Geltendmachung binnen Jahresfrist nicht vorgeschrieben; auch ist es dem An-
spruchsgegner nicht verboten, sich zur Verteidigung gegen diese Ansprüche auf
ein eignes besseres Recht an der Sache zu berufen.
2. Das Verhältnis der Besitzansprüche zum Besitz kann in verschiedener
Art aufgefaßt werden. Man kann nämlich annehmen, daß jeder Besitzer als
solcher zugleich mit dem Besitz an einer Sache ein dingliches Besitzrecht an ihr
erwirbt, kraft dessen gewisse Beeinträchtigungen dieses Besitzes jedem andern
untersagt sind; ist das richtig, so sind die Besitzansprüche, die dem Besitzer
erwachsen, wenn später eine Beeinträchtigung seines Besitzes tatsächlich erfolgt,
lediglich eine Folgeerscheinung jenes dinglichen Rechts und verhalten sich zu
ihm ebenso wie die Eigentumsansprüche zum Eigentum. Möglich ist aber
auch die Annahme, daß der Besitzer als solcher ein wirkliches „Recht“ erst
erlangt, wenn sein Besitz beeinträchtigt wird; ist das richtig, so sind die Besitz-
ansprüche, die dem Besitzer in diesem Fall erwachsen, nicht als Folgeerscheinung
eines andern, dinglichen Rechts, sondern als selbständige obligatorische Rechte
aufzufassen. Welche dieser beiden Auffassungen den Vorzug verdient, ist
zweifelhaft.
Früher habe ich mich unbeschränkt für die erste Auffassung entschieden." Jetzt neige
ich dazu, ein dingliches Besitzrecht nur im Rahmen von 1007, also bloß zugunsten des
Besitzers einer beweglichen Sache, der den Besitz nicht in schlechtem Glauben erlangt hat.
anzunehmen. Wichtig ist die Unterscheidung namentlich für die Frage, ob die Besitzansprüche
dingliche Ansprüche im Sinn von 221 sind; wenn Wolff? diese Frage bejaht und dem Be-
sitzer trotzdem ein dingliches Recht aus seinem Besitz abspricht, ist das ein Widerspruch in
sich. Wichtig ist die Frage ferner für die Anwendung von 823 I: nur soweit man sie bejaht,
kann man die schuldhafte Verletzung fremden Besitzes als deliktische Rechtsverletzung ansehn.
Sehr merkwürdig ist, daß das BGB. einem der Besitzansprüche, nämlich dem lang-
2) Siehe die 4. Aufl. d. Werks Bd. 2 S. 76.
3) Wolff S. 5.