Full text: Lehrbuch des Deutschen bürgerlichen Rechts. Zweiter Band. Das Sachenrecht. - Das Recht der Wertpapiere. - Das Gemeinschaftsrecht. - Das Recht der juristischen Personen. - Das Familienrecht. - Das Erbrecht. (2)

74 Buch III. Abschnitt 2. Besitz und Inhabung. 
fange, nämlich nur im Fall der Ersitzung (938). — Beispiel: A. und B. haben seit Jahren 
einen Grasplatz abwechselnd benutzt, und jedesmal, wenn einer ihn nutzte, hat der andre ihn 
gestört; schließlich hat A. den Platz eingezäunt, und B. hat eine weitere Nutzung des Platzes 
unterlassen, aber den A. sofort wegen Besitzentziehung verklagt. Hier kann es sein, daß die 
von B. bisher geübte Nutzung dergestalt überwog, daß er als der tatsächliche Herr, A. aber 
als bloßer Störenfried erschien; alsdann ist B.s Klage begründet. Es kann aber auch das 
Gegenteil der Fall sein: und ebenso ist der Fall möglich, daß bisher weder A. noch B. als 
tatsächliche Herrn des Platzes anzusehn waren, vielmehr alle beide erst um den Besitzerwerb 
kämpften; in dem einen wie dem andern Fall ist B.s Klage unbegründet. 
b) Die Besitzentziehung muß eine „eigenmächtige“ gewesen, d. h. sie muß 
ohne den Willen des damaligen Besitzers vorgenommen sein (861 I, 858 1). 
Daß sie gegen ein ausdrückliches Verbot des Besitzers oder gar unter An- 
wendung offner Gewalt vor sich gegangen, ist nicht erforderlich. Ebenso ist 
es gleichgültig, ob der Handelnde sich seiner Eigenmächtigkeit bewußt gewesen 
st oder hätte bewußt sein müssen. 
Beispiele. I. A. und gleich nach ihm B. stellen in einem Wirtshause ihre Regen- 
schirme nebeneinander an den dajfür bestimmten Ort; ein Unbesugter stiehlt den Schirm A.s; 
als A. das Wirtshaus verläßt, nimmt er den Schirm B.s mit, im Glauben, daß es der 
seinige sei. Hier entzieht A. dem B. „eigenmächtig“ den Besitz an dem Schirm, auch 
wenn beide Schirme zum Verwechseln ähnlich waren und A. gar nicht wissen konnte, daß 
B. seinen Schirm neben den andern gestellt hatte. Denn es ist gleichgültig, ob A. in gutem 
oder schlechtem Glauben gehandelt hat. II. C. hat von dem Nachbar D. gegen eine im 
voraus gezahlte Entschädigung die Erlaubnis erhalten, in dessen Weinberge die Trauben zu 
lesen; D. widerruft aber die Erlaubnis grundlos: trotzdem nimmt C. die Lese vor. Hier 
entzieht C. dem D. eigenmächtig den Besitz der Trauben. Denn es kommt nicht auf den 
früheren, sondern nur auf den jetzigen Willen des D. an; ob der jetzige Wille des D. be- 
rechtigt oder unberechtigt ist, macht nichts aus. III. E. hat sich von der fünfjährigen F. deren 
Ohrringe schenken lassen, ohne daß die Eltern der F. etwas davon wußten. Hier entzieht 
E. der F. eigenmächtig den Besitnz des Schmucks; denn die von der F. durch die Schenkung 
erklärte Einwilligung in den Besitzverlust war nichtig. IV. 1. G. hat dem H. ein Pferd 
verkauft und ihn ermächtigt, das Pferd selber aus dem Stall zu holen; nachdem letzteres 
geschehn, sicht G. den Verkauf und die Ermächtigung wegen Irrtums, Betruges oder Be- 
drohung rechtmäßig an. Hier hat H. dem G. den Besitz des Pferdes eigenmächtig entzogen; 
denn die von G. erklärte Einwilligung in den Besitzverlust war, nachdem G. sie rechtmäßig 
angefochten, ebenso von Ansang an nichtig wie in dem vorhergehenden Fall die Schenkung 
der Ohrringe.“ 2. Derselbe Fall; nur hatte G. dem H. das Pferd persönlich übergeben und 
sicht nachher die Ubergabe an. Hier ist die Entscheidung dieselbe wie zu 1; denn auch hier 
ist G.s Einwilligung in seinen Besitzverlust nach erfolgter Anfechtung von Anfang an nichtig. 
V. 1. J. übergibt seine Uhr durch eine nicht ernstlich gemeinte Schenkung seinem Diener K., 
um sie einer ihm drohenden Pfändung zu entziehn:; K. entfernt darauf die Uhr heimlich aus 
dem Hause J.S und veräußert sie an L. Hier hat K. dem J. den Besitz der Uhr eigen- 
mächtig entzogen. Denn auch hier war die durch die „Schenkung“ erklärte Einwilligung J. s 
in den Besipverlust nichtig: in Wirklichkeit sollte K. nicht Besitzer der Uhr, sondern nur 
Besitzdiener (855, s. unten § 193f) werden. 2. Anders liegt der Fall, wenn J. die Uhr nicht 
seinem Diener K., sondern seinem Freunde L. zum Schein geschenkt hätte. Denn dann ist 
wenigstens die Übergabe als solche eine ernstliche gewesen: in der nichtigen Scheinschenkung 
steckte eben zugleich ein gültiger Verwahrungsvertrag (117 11l), der den L. mit dem ernst- 
lichen Willen J.S zwar nicht zum Eigen-, aber doch zum Fremdbesitzer der Uhr machte. 
4) R. 55 S. 56, 67 S. 389. 
4a) Aravantinos, Jahrb. f. Dogm. 48 S. 163; abw. Rechtsprechung 10 S. 139, 
Wolff S. 242.
	        
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