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Bürger zu erheben befugt wäre. Das gilt selbst bezüglich des Voranschlags für den
Gemeindebaushalt; wenn das Gesetz ganz allgemein von Einwendungen spricht, die gegen
den Voranschlag erhoben werden, so setzt es dabei als selbstverständlich voraus, daß nur,
wer ein Recht dazu hat, Einwendungen mit Erfolg erheben kann. Wenn also z. B.
die Gemeindevertretung den Bau eines Schulhauses im Süden der Stadt beschließt und
die Baukosten in den Voranschlag aufnimmt, so haben die Bewohner des vernachlässigten
Nordens dawider kein Beschwerderecht; denn daß das Schulhaus in den Norden der
Stadt kommt, ist wohl ein thatsächliches, aber kein rechtliches Interesse der nördlichen
Einwohner. So selbst dann, wenn bei der Beschlußfassung der Gemeindevertretung an-
geblich Unregelmäßigkeiten vorgekommen sind; denn Wächter über die Geschäftsordnung
der Gemeindevertretung ist nur diese selbst oder ihre einzelnen Mitglieder oder der
Bürgermeister, nicht aber jeder Bürger. Eine Klage einzelner Bürger ist also nur zu-
lässig, wenn deren Sonderinteresse verletzt wird, z. B. bei ungleicher Vertheilung der
Gemeindeumlagen, bei Ablehnung von Unterstützungsgesuchen eines Ortsarmen, oder wenn
eine direkte Gemeindewahl — z. B. die eines ländlichen Bürgermeisters — angefochten werden
soll, weil hier jeder einzelne Wähler ein rechtliches Interesse an dem Wahlergebniß hat .
6. Die vorstehenden Regeln gelten nur auf dem Gebiete der eigentlichen Ge-
meindeverwaltung. Auf dem Gebiete der den Gemeinden übertragenen Staatsverwaltung
kommen dagegen andere Regeln zur Geltung, die für die einzelnen Zweige der Staats-
verwaltung verschieden genug sind. Allgemeinen Charakter hat nur die eine Bestimmung,
daß, falls das Gesetz nicht für Einzelfälle eine Ausnahme 2) anordnet, gegen Verfügungen
des Bürgermeisters, auch wenn sie dem Gebiete der Staatsverwaltung angehören, mit
vierwöchiger Frist der Rekurs an das Kreisamt und weiterer Rekurs an das Ministerium
des Innern und der Justiz zugelassen ist ).
II. Kapitel.
Höhere Gemeindeverbände.
§ 54. Außer den Ortsgemeinden sind noch die Kreise und die Provinzen als eigene
Kommunalverbände höherer Art organisirt, eine Neuerung der Kreisordnung von 1874,
die zunächst 18704) durch die Einrichtung besonderer Kreiskassen und Kreisumlagen ein-
geleitet wurde.
I. Die Kreise. 1. Ihre kommunale Thätigkeit ist sehr bedeutungsvoll. Haupt-
sächlich bezieht sie sich auf zwei Dinge: den Straßenbau und das Landarmenwesen.
2. Organe sind der Kreisrath, der Kreisausschuß, der Kreistag.
a) Vorstand des Kreises ist in Kommunalsachen die gleiche Person, wie in Sachen
der Staatsverwaltung, der Kreisrath. Er ist nämlich, wie bereits erwähnt, Vor-
sitzender des Kreistages und Kreisausschusses und hat als solcher die Beschlüsse dieser
beiden Organe vorzubereiten und auszuführen. In dringlichen Fällen kann er außerdem
auch in Kommunalangelegenheiten Namens des Kreisausschusses vorläufige Anordnungen
erlassen. Ferner kann er gegen die Beschlüsse des Kreisausschusses im öffentlichen Inter-
esse den Rekurs an den Provinzialausschuß und weiteren Rekurs an den Verwaltungs-
gerichtshof oder das Ministerium des Innern und der Justiz einlegen und Beschlüsse
1) Zu eng ist jedenfalls die Entsch. des Prov. Aussch. von Rheinhessen: nur der, dessen
private Irnteressen verletzt seien, habe das Beschwerderecht, Z. 4, S. 71. — Bedenklich Entsch.
des Ministerium, Z. 1, S. 19: wenn die ländliche Bürgermeisterwahl durch den Kreisausschuß
bestätigt sei, haben die einzelnen Wahlen dawider kein Beschwerderecht.
2) Z. B. gegen polizeiliche Zwangsmaßregeln des Bürgermeisters Rekurs mit 10 Tage Frist
an Kreisausschuß. StO. 56, Nr. 3, Absatz 5.
3) St O. 120, LpO. 95. 4) Ges. v. 18. März 1870. 1*