14 Zweiter Abschnitt: Staat und Staatsverfassung. 1. Staatsoberhaupt. 85.
2. Die Person des Regenten wird in erster Reihe durch den vorhergehenden Groß-
herzog für die Zeit der Minderjährigkeit seines Nachfolgers frei bestimmt: auch steht
wohl nichts im Wege, daß ein Großherzog in Voraussicht der eigenen Regierungs-
unfähigkeit für sich selbst einen Regenten bestellt. In Ermangelung einer derartigen
Bestimmung treten die vom Gesetze berufenen Vormünder ein. Ueber die Art und Reihen=
folge der Berufung fehlt eine besondere hessische Observanz; es gelten deßhalb die Grund-
sätze des fürstlichen Vormundschaftsrechts; d. h. es ist in erster Reihe die Mutter des
Landesherrn, sodann der nächste regierungsfähige Agnat berufen. Fehlen auch gesetz-
lich berufene Personen, so muß das Staatsministerium als höchste Behörde des Landes
den Regenten ernennen.
3. Der Regent ergreift, sobald die Voraussetzung seiner Berufung eingetreten ist,
die Landesregierung eigenmächtig, ohne daß er etwa — wie in Preußen — einer Be-
stätigung seitens der Kammern bedürfte.
4. Er hat alle Regierungsrechte des Großherzogs, ohne jede Beschränkung, und
muß deßhalb auch die Beobachtung der Verfassung urkundlich versprechen (Verf. Art. 107).
Die Regierung führt er nach eigenem Ermessen, ohne Rücksicht auf Anweisungen, die
ihm etwa der zeitige Großherzog oder derjenige Vorgänger, der ihn zur Regentschaft
berufen, gegeben. Nur in formeller Beziehung kann ihm bei seiner Berufung eine
Schranke gesetzt, z. B. ein Regentschaftsrath mit beschließender Stimme zur Seite gestellt
werden.
5. Während der Dauer der Regentschaft ist der Regent unverletzlich und unverant-
wortlich, da er den Großherzog vertritt. Nach Beendigung der Regentschaft kann er
dagegen, wie jeder andere Vormund, zur Verantwortung gezogen werden, und zwar auch
wegen seiner Regierungshandlungen. Sein strafrechtlicher Schutz ist geringer als der des
Großherzogs (Str.-G.-B. § 100 ff.). Auch die Ehrenrechte des Großherzogs genießt er
nicht. Wohl aber steht ihm die Familiengewalt des Großherzogs über das großherzog-
liche Haus zu.
6. Seiner ganzen Stellung entspricht es, wenn ihm eine Civilliste in gleicher Höhe
wie die des Großherzogs zugewiesen wird. Andrerseits kann dem Lande nicht die Zahlung
einer doppelten Civilliste zugemuthet werden, und der an persönlicher Regierung behinderte
Großherzog bedarf seiner vollen Civilliste nicht. Deßhalb kann der Regent als Vor-
mund des Großherzogs dessen Civilliste für den Großherzog und sich selbst gemeinsam
verwenden.
II. Die Stellvertretung. 1. Der Landesherr kann sich in sämmtlichen
ihm übertragenen Regierungsgeschäften durch einen frei ausgewählten Bevollmächtigten
vertreten lassen. Zwar wird er dies pflichtgemäß nur dann thun, wenn er das Geschäft
persönlich vorzunehmen behindert ist; namentlich sollte er zur Bestellung eines allgemeinen
Stellvertreters, der zur Ausübung der gesammten Regierungsgewalt befugt ist, nur in
Nothfällen schreiten; indeß wäre es verfehlt, hierous eine rechtliche Beschränkung
des Landesherrn zu machen; es hieße das, den Landesherrn gegen seinen Willen zur
persönlichen Regierung zwingen, und dieser Zwang wäre schwerlich zum Heil des Landes.
Großherzog Ludwig II. hat am 5. März 1848 den damaligen Erbgroßherzog zum „Mit-
regenten“ ernannt, um sich bei seinem vorgerückten Alter eine Erleichterung in den Regierungs-
geschäften zu gewähren. Die Mitregentschaft dauerte bis zum 16. Juni 1848, wo Ludwig II. starb.
Rechtlich bedeutete sie eine bloße Stellvertretung; thatsächlich war sie wirkliche Regentschaft.
2. Der Stellvertreter ist vom Regenten verschieden. Denn der Landesherr ist nicht
durch ihn bevormundet, sondern kann seine Stellung beliebig widerrufen und ihn mit
bindenden Anweisungen versehen. Auch während der Dauer der Stellvertretung ist der
Stellvertreter voll verantwortlich.