20 Zweiter Abschnitt: Staat und Staatsverfassung. 3. Der Landtag. 8 10.
zehn, und die gewählten Adels-Vertreter saßen nicht in der I., sondern in der II. Kammer.
Vorübergehend (1849—1850) war die I. Kammer in eine reine Wahlkammer verwandelt; das
Wahlrecht stand allen Staatsbürgern zu, die 20 Fl. Steuern zahlten. 1850—1856: 10 Vertreter
der Großgrundbesitzer, 9 der Höchstbesteuerten, 8 landesherrlich ernannte Mitglieder, endlich Bischof,
Prälat, Kanzler. Das Wahlgesetz vom 6. Sept. 1856 stellte die Regeln der Verfassung wieder her.
Jetzige Zusammensetzung seit 1872.
2. Mitglied der ersten Kammer können nur Staatsbürger sein. Ausgeschlossen
sind im Wesentlichen die nämlichen Personen, die für die zweite Kammer nicht
wählbar sind.
3. Die erblichen Mitglieder können im Falle einer Behinderung, welche die erste
Kammer für genügend erachtet, einen ihrer nächsten Agnaten als Stellvertreter entsenden;
sind sie durch Minderjährigkeit oder Pflegschaft behindert, so tritt der die Vormundschaft
oder Pflegschaft führende Agnat sogar von Rechtswegen an ihre Stelle. — Ebenso
ernennt der Bischof im Falle der Behinderung mit großherzoglicher Bestätigung einen
Stellvertreter; für den behinderten Prälaten oder Kanzler ernennt dagegen der Groß-
herzog den Stellvertreter.
Jeder Stellvertreter stimmt nach seiner eigenen Ueberzeugung, unabhängig von
etwaigen Aufträgen des von ihm vertretenen Mitgliedes.
Im Uebrigen findet eine Stellvertretung für die Mitglieder der ersten Kammer
nicht statt 1.
4. Die gewählten Vertreter des Adels verlieren ihre Stellung aus den nänlichen
Gründen, wie die Abgeordneten der zweiten Kammer?), also regelmäßig nach Ablauf
von 6 Jahren seit der Wahl. Scheidet ein Adelsvertreter vor Ablauf der 6 Jahre
aus, so läuft für den Nachfolger eine neue sechsjährige Periode. — Die übrigen Mit-
glieder verlieren ihre Mitgliedschaft nur durch den Tod oder dadurch, daß nachträglich
ein Umstand eintritt, der sie zur Mitgliedschaft unfähig macht. Auch ein Verzicht
dürfte, z. B. bei den lebenslänglich ernannten Mitgliedern statthaft sein).
§ 10. b. Zusammensetzung der zweiten Ständekammer). Die zweite Kammer ist
reine Wahlkammer.
I. Das Wahlverfahren. 1. Die zweite Kammer besteht aus 50 Abgeordneten.
10 werden von den größeren Städten gewählt, nämlich je zwei von Darmstadt und
Mainz, je einer von Offenbach, Gießen, Friedberg, Alsfeld, Worms, Bingen; die übrigen
40 werden in 40 getrennten Wahlbezirken, welche die übrigen Städte und das platte
Land umfassen und durch Gesetzô) fest umgrenzt sind, gewählt").
2. Die Wahl ist indirekt, wie in allen deutschen Staaten. Die Wahlberechtigten
jedes Wahlbezirks (Urwähler) wählen Wahlmänner, und diese wählen die Abgeordneten.
Jeder ländliche Wahlbezirk ist in Wahlgemeinden getheilt, von denen jede ihre Wahl-
männer getrennt wählt und zwar je einen Wahlmann auf 500 Seelen. Die Wahl-
gemeinden fallen regelmäßig mit den politischen Gemeinden zusammen; nur Gemeinden
mit weniger als 250 Einwohnern und Gemarkungen, die zu keinem Gemeindeverbande
gehören, werden mit einem Nachbarort zu einer gemeinsamen Wahlgemeinde vereinigt.
1) Wahlgesetz, Art. 2, 49.
2) Wahlgesetz, Art. 16. 3) 26. Landtag, I. Kammer, Prot. 10, S. 234.
4) Wahlgesetz vom 8. November 1872.
5) Ges. v. 20. Mai 1875. Ihre Zahl beträgt in Starkenburg 17, in Oberhessen 13, in
Rheinhessen 10.
6) Sollte die Zahl der Abgeordneten der heutigen Bevölkerungsstärke entsprechen, so müßten
auf die größeren Städte 12, auf den Rest 38 Abgeordnete kommen. Die jetzige Vertheilung benach-
theiligt Mainz, Darmstadt und Offenbach zu Gunsten des platten Landes und zu Gunsten von
Friedberg, Alsfeld, Bingen.