II. Reichsgesetzgebung. Art. 4. 99
Es bleibt noch zu prüfen, ob durch andere Bestimmungen der Verfassung
die Kompetenz des Reichs über Art. 4 hinaus erweitert ist. Die Gesetz-
gebung des Reichs wird außer im Art. 4 noch erwähnt: im Art. 3 Abs. 5
(militärische Freizügigkeit), Art. 18 Abs. 2 (Dienstverhältnis der Reichs-
beamten), Art. 20 (Reichstagswahlrecht), Art. 35 (Zölle und indirekte
Steuern), Art. 41 (Anlegung von Reichseisenbahnen im Gebiete von
Bundesstaaten), Art. 58 (Militärlasten), Art. 60 (Feststellung der Friedens-
präsenzstärke des Heeres), Art. 61 Abs. 2 (Reichs-Militärgesetz), Art. 69
(Reichsetat), Art. 73 (Reichsanleihe), Art. 75 Abs. 2 (Zuständigkeit und Ver-
fahren des Oberappellationsgerichts Lübeck zur Entscheidung von Hochverrats-
prozessen — durch das Gerichtsverfassungsgesetz außer Kraft gesetzt), Art. 76
(Erledigung von Verfafsungsstreitigkeiten), Art. 78 (Anderungen der Reichs-
verfassung). So zahlreich diese Bestimmungen find, so enthalten sie doch
zum größten Teil entweder im Verhältnis zum Art. 4 nichts neues oder
sie betreffen Angelegenheiten, für welche die Zuständigkeit der Einzelstaaten
der Natur der Sache nach ausgeschlossen ist. Art. 3 Abs. 5 (militärische
Freizügigkeit) und Art. 60 (Feststellung der Friedenspräsenzstärke des Heeres)
sowie Art. 61 Abs. 2 (Reichs-Militärgesetz) sind spezielle Anwendungsfälle
der allgemeinen Regel des Art. 4 Ziff. 14. Entsprechendes gilt von Art. 35,
dessen Bestimmung soweit sie die Reichskompetenz betrifft von Art. 4 Ziff. 2
sich nur dadurch unterscheidet, daß die im Art. 4 Ziff. 2 festgesetzte einfache
Reichskompetenz zur Gesetzgebung durch Art. 35 für Zölle und für die
zu Zwecken des Reichs zu verwendenden Steuern zur ausschließlichen Kom-
petenz des Reichs erweitert ist. In den in Art. 18 Abs. 2, 20, 69, 73
und 78 behandelten Angelegenheiten: Dienstverhältnisse der Reichsbeamten,
Reichstagswahlrecht, Reichsetat, Reichsanleihe und änderung der Reichs-
verfassung kann die Zuständigkeit der Einzelstaaten der Natur der Sache
nach nicht in Frage kommen. Dagegen ist eine über Art. 4 hinausgehende
Einschränkung der Kompetenz der Einzelstaaten im Art. 41 Abs. 1 und
Art. 76 zu finden. Art. 41 Abs. 1 bestimmt, daß kraft eines Reichsgesetzes
Eisenbahnen, die im Interefse der Verteidigung Deutschlands oder im
Interesse des gemeinsamen Verkehrs für notwendig erachtet werden, auch
gegen den Widerspruch der Bundesglieder, deren Gebiet die Eisenbahnen
durchschneiden, unbeschadet der Bundeshoheitsrechte für Rechnung des Reichs
angelegt oder an Privatunternehmer zur Ausführung konzessioniert und mit
dem Expropriationsrecht ausgestattet werden können. Diese Vorschrift wird
durch Art. 4 Ziff. 8 nicht gedeckt, wonach der Gesetzgebung des Reichs u. a.
„das Eisenbahnwesen im Interesse der Landesverteidigung und des all-
gemeinen Verkehrs“ unterliegt. Die Bestimmung des Art. 4 Ziff. 8 umfaßt,
wie unter Art. 4 Ziff. 8 ausgeführt ist, nicht das Recht des Reichs, selbst
Eisenbahnen auf Kosten der Zuständigkeit der Einzelstaaten in eigenen Be-
trieb zu nehmen. Art. 76 Abst. 2 schreibt vor, daß Verfassungsstreitigkeiten
in Bundesstaaten, in deren Verfassung nicht eine Behörde zur Entscheidung
solcher Streitigkeiten bestimmt ist, auf Anrufen eines Teils der Bundesrat
gütlich auszugleichen oder, wenn dies nicht gelingt, im Wege der Reichs-
gesetzgebung zur Erledigung zu bringen hat. Diese Bestimmung enthält im
Verhältnis zu Art. 4 ebenfalls eine Erweiterung der Reichskompetenz zur
Gesetzgebung. Man kann die Befugnis des Reichs, Verfassungsstreitigkeiten
der Einzelstaaten unter Umständen gesetzlich zu regeln, besonders nicht als
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