II. Reichsgesetzgebung, Art. 4. 101
Amtswegen durch die Organe des Reichs kontrolliert werden soll. Dies
hängt mit dem allgemeinen Standpunkt zusammen, der für die Staats-
einrichtungen Preußens schon seit langer Zeit maßgebend und von dort für
das Reich übernommen ist, aber im Gegensatz zu der Auffassung steht, die
z. B. in Amerika, England und der Schweiz die Gesetzgebung und die Ver-
waltung beherrscht. Während in jenen Ländern bei der Gesetzgebung in der
Regel bloß allgemeine Grundsätze aufgestellt werden, die Kontrolle der Aus-
führung aber im wesentlichen nur eintritt, wenn die beteiligten Privat-
personen Beschwerden wegen ungenügender Ausführung einreichen, entspricht
es der preußisch-deutschen Auffassung, daß überall dort, wo das öffentliche
Interesse irgendwie beteiligt ist, die Befolgung des Gesetzes von Amtswegen
kontrolliert wird; vgl. die Ausführungen des Staatssekretärs des Innern
Graf v. Posadowsky-Wehner in der Reichstagssitzung v. 19. April 1899
St. B. 1860.
Daß den Einzelstaaten gegenüber das Reich die Rolle des Aufsichts-
organs übernimmt und daß die Aussicht des Reichs sich auch auf die der
eigenen Verwaltung der Einzelstaaten unterworfenen Gebiete — soweit sie
im Art. 4 genannt find — erstreckt, ist eine logische Folge der staatsrecht-
lichen Stellung, in der sich das Reich im Verhältnis zu den Einzelstaaten
befindet. Jedoch gilt dies natürlich nicht für diejenigen Angelegenheiten,
die das Reich überhaupt nicht — auch nicht in Ansehung der Gesetzgebung
— in den Kreis seiner Kompetenz gezogen hat. Ferner ist die Bestimmung
ohne praktische Bedeutung für diejenigen Angelegenheiten, die nicht nur der
Gesetzgebung, sondern auch der eigenen Verwaltung des Reichs unterliegen,
wie Kriegsmarine, Post und Telegraphie, Diplomatie und Konsulatwesen;
denn hier ist die Aufsicht des Reichs selbstverständlich. Ubrig bleiben
also für die Anwendung des Ausfsichtsrechts die zahlreichen Angelegen-
heiten, in denen dem Reich die Gesetzgebung, den Einzelstaaten die Ver-
waltung zusteht.
Im allgemeinen ist nämlich bezüglich der im Art. 4 bezeichneten An-
gelegenheiten die Kompetenz zwischen Reich und Einzelstaaten so abgegrenzt,
daß dem Reich die Aufstellung der allgemeinen Regeln in der Form der
Gesetzgebung, deren Ausführung aber und die ganze praktische Verwaltung
den Einzelstaaten obliegt. Es ist Sache des Reichs, die Ausführung der
Reichsgesetze zu kontrollieren, d. h. zu überwachen, daß die Vorschriften der
Reichsgesetze von den Einzelstaaten beobachtet werden; vgl. Laband II S. 190ff.
Zur Durchführung der Kontrolle hat das Reich die Befugnis, von allen
Angelegenheiten, die seiner Beaufsichtigung unterliegen, Kenntnis zu nehmen.
Die Kenntnisnahme wird in der Regel sich nicht anders vollziehen können,
als daß die Einzelstaaten dem Reiche die von letzteren verlangte Auskunft
erteilen, und zwar beschränkt sich die Auskunftspflicht nicht nur auf einzelne
Fälle, die etwa Gegenstand einer Beschwerde find, sondern da es Sache
des Reichs ist, die Ausführung der Reichsgesetze auch in ihrer Gesamt-
wirkung zu überwachen, so kann das Reich statistische Aufstellungen ver-
langen und Auskünfte allgemeinen Inhalts, welche die Ausführung und
Wirkung der Reichsgesetze betreffen — ebenso v. Rönne II 7. 1 S. 65, der
allerdings über den hier vertretenen Standpunkt hinaus noch weitere Be-
fugnisse dem Reich zuschreibt, für die es wohl an einem praktischen Bedürfnis
fehlt und bezüglich deren es sehr zweifelhaft ist, ob sie aus dem allgemeinen