II. Reichsgesetzgebung. Art. 4. 107
gesammelt und sachkundige Beamte herangebildet werden sollten, aber ein
Auffichtsrecht im allgemeinen Sinne, d. h. die Befugnis des Reichs, seinen
Willen den Einzelstaaten nötigenfalls aufzuzwingen, kann nicht bestanden
haben. Wenn Laband, wie es nach den Ausführungen a. a. O. S. 616
den Anschein hat, im wesentlichen dasselbe annimmt, so würde allerdings
nur noch Streit um den Begriff und die Bedeutung des Wortes „Aufsichts-
recht“ sein. Hier wird jedenfalls unterschieden: eine informatorische Tätig-
keit des Reichs und seine Machtbefugnis, den Einzelstaaten auf Grund des
Auffichtsrechts nach Erschöpfung aller diplomatischen Mittel zu befehlen und
zu verbieten. Die Frage, ob ohne Auffichtsrecht das Reich ein Recht
darauf hat, auch gegen den Willen der Einzelstaaten zur Information in
deren Geschäftstätigkeit einzudringen, wird eher zu verneinen sein; doch dürfte
diese Frage keine praktische Bedeutung haben. Die Ausführung Labands
bezieht sich auf eine Erklärung, die der Staatssekretär des Innern Graf
v. Posadowsky-Wehner in der Reichstagssitzung v. 3. Mai 1906 St. B. 2867f.
unter Bezugnahme auf die schon früher von ihm in der Petitions-Kom.
am 14. April 1904 getanen Außerungen abgegeben hat; vgl. Anl. der
11. Leg.-Per. Sess. 2 Bd. 7 S. 5688 Nr. 601. Dort hat der Staatssekretär
die Beantwortung einer Interpellation betreffend die Ausweisung von Aus-
ländern mit der Begründung abgelehnt, daß abgesehen von der Unmöglich-
keit von Reichswegen alle Ausweisungsfälle nachzuprüfen dem Reich nach
dieser Richtung ein Aufsichtsrecht nicht zustehe, weil die entsprechende, auf
die Fremdenpolizei bezügliche Verfassungsbestimmung (Art. 4 Ziff. 1) noch
nicht ausgeführt sei. Seine hierauf bezügliche Erklärung lautet:
„Die Verfassungsbestimmung des Art. 4 Ziff. 1 hat, solange und soweit
sie nicht durch Spezialgesetze ihre weitere Ausführung und Erfüllung er-
fahren hat, zunächst einen promissorischen Charakter. Solange also diese
Verfassungsbestimmung nicht ausgeführt ist durch Spezialgesetze für das
ganze Reich, behalten die bestehenden einzelstaatlichen Vorschriften gesetz-
liche Kraft. Die Einzelstaaten behalten hiernach auf diesem Gebiete alle
ihre Befugnisse und alle ihre Rechte, soweit sie nicht durch Reichsgesetze
im einzelnen beschränkt oder geändert find; die Einzelstaaten bleiben in-
soweit selbständige Rechtssubjekte mit eigener Machtsphäre, mit besonderer
Vollstreckungsmacht, mit voller Willens- und Handelsfreiheit, und die
Einzelstaaten haben das Recht zu verlangen, daß in diese ihre gesetzliche
Machtsphäre nicht eingegriffen werde."“
Dieser Standpunkt ist richtig. Solange die Bestimmungen des Art. 4
nicht ausgeführt find, ist für ein Aufsichtsrecht des Reichs aus inneren
Gründen kein Raum. Das Aufsichtsrecht des Reichs hat abgesehen von
den besonderen Bestimmungen der Art. 36, 45, 63, 64 R.V. die richtige
Ausführung und Beobachtung der Reichsgesetze zum Gegenstande mit dem
Ziel, daß die durch die Reichsgesetzgebung geschaffene Einheit des Rechts
aufrecht erhalten werde. Ist die Angelegenheit reichsgesetzlich nicht geregelt,
so kann von einer Einheit des Rechts nicht die Rede sein. Es würde der
staatsrechtlichen Stellung der Einzelstaaten widersprechen, wenn das Reich
auf dem Gebiete ihres eigenen Landesrechts Beschwerde- und Aufsichtsinstanz
sein sollte, und bei einer Divergenz der landesrechtlichen Bestimmungen
müßte unter Umständen das Reich bezüglich derselben Angelegenheit in ver-
schiedenen Einzelstaaten je nach dem dort geltenden, mangels reichsrechtlicher