Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

114 II. Reichsgesetzgebung. Art. 4. 
Unter den Begriff der „Heimats- und Niederlassungsverhältnisse“ fällt 
ferner das Gesetz über die Aufhebung der polizeilichen Beschränkungen der 
Eheschließung v. 4. Mai 1868 (B. G. Bl. S. 149). Danach bedürfen Reichs- 
angehörige zur Eingehung einer Ehe oder zu der damit verbundenen 
Gründung eines eigenen Haushalts weder des Besitzes noch des Erwerbes 
einer Gemeindeangehörigkeit (Gemeindemitgliedschaft) oder des Einwohner- 
rechts noch der Genehmigung der Gemeinde (Gutsherrschaft) oder des 
Armenverbandes noch einer obrigkeitlichen Erlaubnis. Insbesondere darf 
die Befugnis zur Verehelichung nicht beschränkt werden wegen Mangels 
eines bestimmten die Volljährigkeit übersteigenden Alters oder des Nachweises 
einer Wohnung, eines hinreichenden Vermögens oder Erwerbes, wegen 
erlittener Bestrafung, bösen Rufes, vorhandener oder zu befürchtender Ver- 
armung, bezogener Unterstützung oder aus anderen polizeilichen Gründen. 
Auch darf von der ortsfremden Braut ein Zuzugsgeld oder eine sonstige 
Abgabe nicht erhoben werden. 
Dieses Gesetz gilt nicht in Bayern und Elsaß-Lothringen. Für Bayern 
beruht die Ausnahme auf dem Schlußprotokoll zum Versailler Vertrage 
v. 23. Nov. 1870 B. G. Bl. 1871 S. 28, dessen Art. 1 bestimmt: 
„Es wurde auf Anregung des Kgl. Bayrischen Bevollmächtigten von 
Seite des Kgl. Preußischen Bevollmächtigten anerkannt, daß, nachdem 
sich das Gesetzgebungsrecht des Bundes bezüglich der Heimats= und 
Niederlafsungsverhältnisse auf das Königreich Bayern nicht erstreckt, die 
Bundes-Legislation auch nicht zuständig sei, das Verehelichungswesen 
mit verbindlicher Kraft für Bayern zu regeln, und daß also das für den 
Norddeutschen Bund erlassene Gesetz v. 4. Mai 1868, die Aufhebung der 
polizeilichen Beschränkungen der Eheschließungen betreffend, jedenfalls 
nicht zu denjenigen Gesetzen gehört, deren Wirksamkeit auf Bayern aus- 
gedehnt werden könnte." 
Das bürgerliche Gesetzbuch hat hieran nichts geändert, soweit sich die 
bayrische Sondergesetzgebung auf polizeiliche Bestimmungen beschränkt, weil 
die Vorschriften des B. G. B. grundsätzlich das bffentliche Recht unberührt 
gelassen haben und insbesondere die Bestimmungen über Eingehung der Ehe 
§§ 1309 ff. sich nicht auf die polizeilichen Beschränkungen der Eheschließung 
beziehen; vgl. Planck, B.G.B. Ziff. 5 der Vorbemerkungen zum 2. Titel 
des 4. Buches. 
Die Gründe für dieses also noch in Kraft befindliche bayrische Reservat- 
recht find nur historischer Natur. Man hatte gerade in der Zeit vor der 
Gründung des Reichs, nämlich i. d. J. 1868 und 1869 in Bayern neue 
Gesetze über Armen= und Krankenpflege, Heimat, Verehelichung und Aufent- 
halt, die sogen. Sozialgesetze erlassen, und wollte diese eben erst ins Leben 
gerufene Gesetzgebung nicht schon wieder aufgeben; vgl. die Erklärungen des 
Präsidenten Delbrück in den Reichstagssitzungen v. 5. und 8. Dez. 1870 
St. B. S. 70 und S. 144. 
Die Zuständigkeit des Reichs zur Regelung der Heimats= und Nieder- 
lassungsverhältnisse bezieht sich übrigens nicht auf die kommunalen 
Heimats= und Niederlassungsverhältnisse. An die Rechtslage der Stadt- 
und Landgemeinden hat man bei Erlaß der Reichsverfassung nicht gedacht, 
wenigstens in keinem anderen Sinne, als diese Verhältnisse in die vor- 
genannten Reichsgesetze einbezogen find; d. h. die Niederlassung und
	        
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