Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

118 II. Reichsgesetzgebung. Art. 4. 
insbesondere in der Polenfrage. Von Abgeordneten der sogen. Polnischen 
Partei ist im Reichstage wiederholt das Verlangen ausgesprochen worden, 
daß das Reich gegenüber der in Preußen befolgten Polenpolitik Stellung 
nehmen möge. Die Reichsverwaltung hat dies stets verweigert; vgl. u. a. 
die Erklärung des Reichskanzlers Fürst Bülow in der Reichstagssitzung 
v. 7. Juni 1902 St. B. 5475 D. 
Ebenso liegt auf dem durch das Bayrische Schlußprotokoll für die 
Reichskompetenz ausgeschlossenen innerpolitischen Gebiete die Staats-Kirchen- 
hoheit, das ius circa sacra. Dies wurde von der Reichsverwaltung be- 
sonders anerkannt, als i. J. 1902 im Reichstage eine Beschwerde über 
die Behandlung der katholischen Kirche im Gebiete des Großherzogtums 
Mecklenburg-Schwerin erhoben wurde. Der Staatssekretär des Innern 
Graf v. Posadowsky-Wehner lehnte damals in der Reichstagssitzung 
v. 29. Jan. 1902 St. B. -3471 B. C. die Reichskompetenz für die Ausübung 
eines ius circa sacra ausdrücklich ab, erblickte aber eine mittelbare Be- 
teiligung der Interessensphäre des Reichs darin, daß durch Schwierigkeiten, 
die der katholischen Kirche in einem Einzelstaat bereitet würden, die Frei- 
zügigkeit beeinträchtigt und die Lage der katholischen Reichsbeamten, deren 
Wohnsitz in diesem Einzelstaat gelegen ist, verschlechtert werde. Der Ver- 
treter der Reichsverwaltung hat jedoch aus dieser mittelbaren Beteiligung 
der Reichsinteressen keinen anderen Schluß gezogen, als daß es erwünscht 
sei, bestehende Ungleichheiten im Wege bundesfreundlicher Verhandlungen 
zu beseitigen. Durch bundesfreundliche Verhandlungen wird der Frage der 
Kompetenzverteilung zwischen Reich und Einzelstaaten in keiner Weise prä- 
judiziert; denn da es sich bei diesen Verhandlungen lediglich um Momente 
handelt, die im Gebiete der Politik und des persönlichen Einflufses liegen, 
so bleibt die Rechtsfrage außer Betracht. 
Auch im Reichsstrafgesetzbuch sind die kirchlichen und religiösen Ver- 
hältnisse nur in besonderen Richtungen berührt, z. B. 8 130 a (Kanzel- 
paragraph) und 8 67 des Personenstandsgesetzes (Strafbestimmung für 
Geistliche, die ohne den Nachweis der bürgerlichen Eheschließung zum 
kirchlichen Vollzug der Ehe schreiten); R.G. Bl. 1875 S. 36. Das Reichs- 
gericht (I. Strff. Urt. v. 9. Juli 1906 Bd. 39 S. 148) hat aus der Tatsache, 
daß die Regelung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche nicht zur 
Reichskompetenz gehört, sondern der Landesgesetzgebung überlassen geblieben 
ist, den Schluß gezogen, daß das Badische Gesetz v. 19. Febr. 1874, wo- 
nach die mißbräuchliche Anwendung der kirchlichen Straf- und Zuchtgewalt 
und sonstiger geistlicher Machtmittel für bestimmte Fälle unter Strafe 
gestellt ist, gültig geblieben ist; vgl. auch die unter Art. 3 III. 7 S. 82 
angeführte Erklärung des Bundeskommissars v. Savigny und nachstehende 
Erklärung, die der Reichskanzler Fürst Bülow in der Reichstagssitzung 
v. 5. Dez. 1900 St. B. S. 801 abgab. 
„Ein Reichsgesetz, betr. die Freiheit der Religionsübung, würde die 
verfasfungsmäßige Selbständigkeit der Bundesstaaten auf einem Gebiet 
beschränken, das fie der Zuständigkeit ihrer Landesgesetzgebung vorbehalten 
müssen.“ 
d) Paßwesen. 
Über das Paßwesen ist das Bundesgesetz v. 12. Okt. 1867 B.G. Bl. 
S. 33 ergangen, das auf Grund der mit den Süddeutschen Staaten ge-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.