Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

II. Reichsgesetzgebung. Art. 4. 129 
wonach zugunsten der wirtschaftlich und kulturell gedrückten Gesellschafts- 
schichten dem Reich, den Einzelstaaten oder anderen öffentlichen Verbänden 
und den in besserer Lage befindlichen Gesellschaftsschichten Opfer auferlegt 
werden. Nach dem Material, das für die Entstehung dieses sozialpolitischen 
Grundsatzes vorliegt, scheinen bei den amtlichen Stellen des Reichs, die 
diese Politik ins Leben gerufen und befördert haben, vornehmlich drei ver- 
schiedene Beweggründe eine Rolle gespielt zu haben, die zwar oft in 
einander übergehen, aber jeder für sich ein selbständiges, von den anderen 
verschiedenes Element darstellen, und es ist für die praktische Ausgestaltung 
der Gesetzgebung von großer Bedeutung, ob das eine oder andere Element 
überwiegt. Einmal dachte man bei der Einführung der Sozialpolitik daran, 
die politische Unzufriedenheit der Massen dadurch zu bekämpfen, daß der 
turbulenten und selbst revolutionären Politik der politisch nicht genügend 
geschulten unteren Volksschichten der Staat als Wohltäter gegenübergestellt 
werden konnte, an dessen Erhaltung sich auch für die Armsten der Armen 
handgreifliche Interessen knüpften. Die Sozialpolitik sollte insofern eine 
Ergänzung der Repressivmaßregeln bilden, auf welche letztere die Regierung 
allein angewiesen wäre, wenn sie an der Möglichkeit einer politischen Er- 
ziehung der Arbeiter gin industriellen Sinne des Wortes) verzweifelte. 
Außerdem waren es ethische, rein charitative Erwägungen, die, wenn sie 
erst einmal als den Staat politisch verpflichtende Gesichtspunkte anerkannt 
waren, mit Notwendigkeit dazu führten, daß einem festgestellten Notstand 
gegenüber der Staat alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel zur Abhilfe 
anwenden mußte, um dem Sittengesetz zu genügen, das dem Starken den 
Schutz des Schwachen befiehlt. Drittens und endlich ist nicht zu unter- 
schätzen die Wirkung der praktischen Erwägung, die es nützlich und sogar 
notwendig erscheinen läßt, im Interesse der geistigen, wirtschaftlichen und 
militärischen Leistungsfähigkeit der Nation die Kräfte der großen Massen 
so sehr als möglich zu schonen und fortzuentwickeln und die deshalb logisch 
zu einer möglichst weiten Ausgestaltung derjenigen Maßregeln führte, die 
auf eine Besserung der Erziehung, der Ausbildung und der Hygiene der 
breiten Volkskreise, namentlich ihres jugendlichen und des weiblichen Teils, 
abzielen. An einigen Beispielen kann gezeigt werden, welche Rolle diese 
verschiedenen Beweggründe in der Praxis spielten: 
Wie aus dem von v. Poschinger (Fürst Bismarck als Volkswirt Bd. 1 
S. 26 ff.) beigebrachten Aktenmaterial hervorgeht, war es Fürst Bismarck, der 
zuerst und unter lebhaftem Widerstande der anderen in Betracht kommenden 
Ministerialinstanzen sich bemüht hat, der bis dahin nur von Theoretikern 
eines Staatssozialismus verfolgten Idee der Arbeiterversicherung praktische 
Geltung zu verschaffen. Eine erste Anregung zur Altersversorgung der 
Arbeiter findet sich bereits in einem Schreiben des Fürsten Bismarck an den 
Minister des Innern Grafen zu Eulenburg v. 18. März 1863 (v. Poschinger 
Aktenstücke Bd. 1 S. 10). Dort ist der Gedanke zum Ausdruck gebracht, daß 
den arbeitenden Klassen Gelegenheit geboten werden solle, sich durch eigene 
Anstrengung und Sparsamkeit in jüngeren Jahren eine gegen Not gesicherte 
Existenz im Alter zu verschaffen. Es sollten deshalb Alters-Versorgungs- 
anstalten von Regierungswegen gefördert werden, welche die Tendenz hätten, 
sowohl die Sparsamkeit und sittliche Selbständigkeit im Arbeiterstande zu 
heben, als auch die Armenpflege zu erleichtern. Der Minister des Innern 
Dambitsch, Deutsche Reichsverfassung. 9 
 
	        
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