132 II. Reichsgesetzgebung. Art. 4.
der Regelung gemeinsamer Angelegenheiten beteiligt und zur Wahrnehmung
ihrer Interessen bei Verhandlung mit den Arbeitgebern und mit den
Organen Meiner Regierung befähigt werden. Durch eine solche Ein-
richtung ist den Arbeitern der freie und friedliche Ausdruck ihrer Wünsche
und Beschwerden zu ermöglichen und den Staatsbehörden Gelegenheit zu
geben, sich über die Verhältnisse der Arbeiter fortlaufend zu unterrichten
und mit den letzteren Fühlung zu unterhalten.“
Der letztere Teil dieses Programms wird übrigens durch den z. Z. dem
Reichstag vorliegenden Gesetzentwurf über Arbeitskammern ausgeführt. Die
Arbeitskammern sollen aus Vertretern der Arbeitgeber und Arbeitnehmer
paritätisch zusammengesetzt und fachlich gegliedert werden. Durch fie sollen
die Unternehmer und Arbeiter zusammengeführt und für die Auseinander-
setzung zwischen ihnen über ihre beiderseitigen Berufsinteressen ein gemein-
schaftlicher Boden geschaffen werden.
Endlich ist zur Beleuchtung des herrschenden Motives der Sozialpolitik
noch folgende Stelle der Thronrede v. 19. Febr. 1907, mit welcher der
Reichstag nach der letzten Auflösung eröffnet wurde (St. B. S. 1), an-
zuführen:
„Jene Gesetzgebung (zum Schutze der wirtschaftlich Schwachen) beruht
auf dem Grundsatz der sozialen Verpflichtung gegenüber den arbeitenden
Klassen und ist daher unabhängig von der wechselnden Parteigestaltung.
Die Verbündeten Regierungen sind entschlossen, das soziale Werk in dem
erhabenen Geiste Wilhelm's des Großen fortzusetzen.“
Was endlich das dritte Motiv anbetrifft, die Schonung und Förderung
der Volkskraft im geistigen, wirtschaftlichen und militärischen Interesse der
Nation, so knüpft sich diese Erwägung natürlich mehr an diejenigen sozial-
politischen Maßnahmen, die in der Gewerbeordnung und den sich ihr an-
schließenden Gesetzen (Kinderschutzgesetz usw.) zum Ausdruck kommen, als an die
Arbeiterversicherung. Die volkswirtschaftliche Wirkung der Arbeiterversicherung
für das Volksganze besteht zum großen Teil darin, daß Existenzen, die sich
bereits auf der absteigenden Linie ihres Lebensganges befinden, durch Zuwen-
dung von Geldmitteln zu einer längeren und materiell befsseren Lebensführung
instand gesetzt werden, als es der Fall sein würde, wenn sie lediglich auf
Armenunterstützung angewiesen wären — womit kein ungünstiges Urteil,
auch nicht über die objektiven Wirkungen der Arbeiterverficherung gefällt
werden soll. Im Gegensatz hierzu berühren sich die in der Gewerbeordnung,
im Kinderschutzgesetz, in der Wohnungsfürsorge usw. zum Ausdruck kommen-
den sozialen Tendenzen mit den allemeinen und ursprünglichen Zwecken des
Reichs insofern mehr, als sie, weil überwiegend der sittlichen und phyfischen
Stärkung der heranwachsenden Generation gewidmet, von hervorragender
Bedeutung für die Erhaltung der Wehrkraft des Volkes sind. Sie bilden
ein wenn auch nicht gleichwertiges Gegengewicht zu dem Verlust an Volks-
kraft, der mit der Abwanderung der Landbevölkerung und ihrem dauernden
bergang zur industriellen Arbeiterschaft der Städte verbunden ist. Dies
ist näher beleuchtet in einem vom Staatssekretär des Innern Graf v.
Posadowsky-Wehner in der Reichstagssitzung v. 4. März 1907 St. B. 216 C
mitgeteilten Schreiben, das der preußische Kriegsminister u. d. 2. Okt. 1902
an den Reichskanzler gerichtet hat und dessen auf den vorstehenden Punkt
bezüglicher Schluß lautet: