II. Reichsgesetzgebung. Art. 4. 133
„Bei der voraussichtlich weiter fortschreitenden Industriealisierung des
Staates und mit Rücksicht darauf, daß mit einem Zuströmen der länd-
lichen Bevölkerung in die Städte und Auffrischung des städtischen Blutes
in dem Umfange der letzten Jahrzehnte auf die Dauer wohl nicht mehr
zu rechnen sein dürfte, gewinnen aber auch die Maßnahmen der Regierung
zur Hebung der sozialen Lebensbedingungen der Industriebevölkerung
3. B. Hebung der Gesundheit und der Wohnungsverhältnisse, Minderung
der Kindersterblichkeit, Fortbildung der schulentlassenen Jugend, Be-
kämpfung des Alkoholmißbrauchs usw. vom Standpunkt der Heranziehung
eines guten Heeresersatzes eine erhöhte Bedeutung. Ich möchte daher
diese Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, Ew. pp. ergebenst zu ersuchen,
bei diesen sozialpolitischen Aufgaben, soweit sie in ihr Ressort fallen, den
Gesichtspunkten der Erhaltung unserer Wehrkraft auch ferner wie bisher
ihr wohlwollendes Interesse zuwenden zu wollen.“
Daß auf dem zuletzt berührten Gebiet die Sozialpolitik handgreifliche
Vorteile erzielt hat, die nicht nur den Kreisen, zu deren unmittelbarer
Förderung die Maßnahmen getroffen find, sondern mittelbar auch der ganzen
Nation zu statten kommen, kann keinem Zweifel unterliegen. Was dagegen
die versöhnende Wirkung anbetrifft, die gegenüber dem bestehenden Klassen-
gegensatz von den sozialpolitischen Einrichtungen ursprünglich erwartet worden
ist, so ist allerdings nach den bisherigen Erfahrungen zuzugeben, daß diese
Hoffnung zum großen Teile nicht in Erfüllung gegangen ist. Es ist dar-
auf zurückzuführen, daß die Vertreter der arbeitenden Klassen im Reichstag,
in der Presse und an anderen Stellen der Offentlichkeit die vom Reich
und — seinem Beispiel folgend — von den Einzelstaaten, von den Kom-
munen und anderen öffentlichen Verbänden und von Privatpersonen auf
dem Gebiete der Sozialpolikik aufgewandten Leistungen nicht haben an-
erkennen wollen, sondern als Bagatelle behandelt haben. Dies hängt zum
Teil mit der falschen Rechtsauffassung zusammen, von der aus angenommen
wird, daß das Reich verpflichtet sei, für jede bestehende wirtschaftliche Not
Abhülfe zu schaffen. Von diesem Standpunkt aus kann man natürlich
leicht beweisen, daß alles bisher Geschehene unzulänglich sei (val. v.
Jagemann S. 75 und die Ausführungen des Staatssekretärs des Innern
Graf v. Posadowsky-Wehner in der Reichstagssitzung v. 6. Febr. 1906 St. B.
1051 A). Was die Sozialpolitik im Gegensatz zur Armenpflege charakter=
isiert, ist allerdings der Umstand, daß soweit die Gesetzgebung eingreifen
will, für die Schützlinge dieser Politik ganz bestimmte, positive Rechte an-
erkannt werden, bei denen eine Herabsetzung des persönlichen Ansehens oder
eine Verminderung der politischen Rechte der mit dem Schutz ausgestatteten
Personen aussgeschlossen ist. Jedoch daraus, daß daß Reich in einzelnen
Fällen solche Rechte auf Grund pofitiver Bestimmungen der ad hoc erlassenen
Gesetze anerkannt hat, folgt noch nicht, daß die Beseitigung jeder bestehen-
den Not generell zu den Aufgaben des Reichs gehört. Wenn also auch die
Hoffnungen, die auf die versöhnende Kraft der Sozialpolitik anfangs gesetzt
worden find, sich nicht erfüllt haben und deshalb die Neigung Sozialpolitik zu
treiben in manchen Kreisen, die auch im Reichstag vertreten find, begreiflicher
Weise zurückgegangen ist, so kann doch der objektiv günstige Erfolg der Sozial-
polikik, der unabhängig ist von der abfälligen Beurteilung, die diese Politik in
der Offentlichkeit vielfach von den politischen Vertretern der arbeitenden Klassen