II. Reichsgesetzgebung. Art. 4. 135
„Ich bin entschlofsen, zur Verbefserung der Lage der deutschen Arbeiter
die Hand zu bieten, soweit die Grenzen es gestatten, welche Meiner Für-
sorge durch die Notwendigkeit gezogen werden, die deutsche Industrie auf
dem Weltmarkte konkurrenzfähig zu erhalten und dadurch ihre und der
Arbeiter Existenz zu sichern. Der Rückgang der heimischen Betriebe durch
Verlust ihres Absatzes im Auslande würde nicht nur die Unternehmer,
sondern auch ihre Arbeiter brotlos machen. Die in der internationalen
Konkurrenz begründeten Schwierigkeiten der Verbesserung der Lage unserer
Arbeiter lassen sich nur durch internationale Verständigung der an der
Beherrschung des Weltmarktes beteiligten Länder, wenn nicht überwinden,
doch abschwächen."
vgl. auch den Erlaß des Fürsten Bismarck an den Botschafter in London
v. 8. Febr. 1890 (v. Poschinger a. a. O. S. 237). Bei dieser Frage des
iuternationalen Wettbewerbs ist allerdings zu berücksichtigen, daß bisher das
Ausland in der Sozialpolitik nicht annähernd so weit gegangen ist als
Deutschland und daß die ausländische Industrie deshalb viel geringere
Lasten trägt. Innerhalb der durch die Konkurrenz des Auslandes für die
Belastung der heimischen Industrie gezogenen Schranken aber wird, solange
die wirtschaftlichen Verhältnisse im Fluß find und namentlich Industrie
und Handel sich intensiv und extenfiv so fortentwickeln, und solche Um-
wälzungen durchmachen, wie es in gegenwärtiger Zeit geschieht, auch die
soziale Gesetzgebung sich fortentwickeln müssen. Mit Rücksicht auf die großen
sozialen Aktionen, die das Reich seit etwa drei Jahrzehnten ausgeführt hat
und mit Rücksicht auf die Kontinuität der politischen Haltung, die dabei
beobachtet wird, kann man sogar sagen, daß es jetzt bereits zu den politischen
Traditionen sowohl des Reichs wie — infolge seines Beispiels — auch der
Einzelstaaten gehört, den wirtschaftlich Schwachen im wirtschaftlichen Kampfe
beizustehen.
Jedoch ist, was die Rechtsfrage anbetrifft, folgender Gesichtspunkt fest-
zuhalten: Es gibt keine pofitive Verfassungsbestimmung, die das Reich ver-
pflichtet, Sozialpolitik zu treiben, keine Vorschrift, die etwa dem Reich die
Pflicht zur Aufhebung aller sozialen Not auferlegt. Es kann sogar in
Zweifel gezogen werden, ob man bei der Feststellung der Reichsverfassung
an diese Politik, für die es weder in noch außerhalb Deutschlands ein
Vorbild gab, gedacht hat, und ob man insbesondere bei dem Worte „Ver-
sicherungswesen“ im Art. 4 Ziffer 1 an die jetzt ins Leben getretene Arbeiter-
versicherung gedacht hat, die wie Laband III S. 266ff. mit Recht bemerkt,
überhaupt nur im wirtschaftlichen und nicht im juristischen Sinne eine
Versicherung darstellt, da die Vertragsfreiheit dabei völlig aufgehoben ist.
Wird die Arbeiterversicherung durch Art. 4 nicht gedeckt, so haben die
darauf bezüglichen Gesetze, indem sie dem Reich die Kompetenz zu dieser
in der Reichsverfassung nicht vorgesehenen praktischen Betätigung der Sozial-
politik übertragen haben, eine Anderung der Reichsverfassung geschaffen.
Ausdrücklich braucht die Anderung nicht erklärt zu sein. Es genügt,
daß die Vorschriften des Art. 78 gewahrt worden find, und es ist anzu-
nehmen, daß dies geschehen ist. Die Kompetenz des Reichs wird dadurch
bestimmt, daß Art. 4 durch eine prägnante Bezeichnung die Materie angibt,
die der Reichsgesetzgebung überlassen wird. Es ist durch die Reichsverfassung
nichts darüber bestimmt, in welchem Geiste die durch Art. 4 vorgesehenen