Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

174 II. Reichsgesetzgebung. Art. 5. 
gebracht, vom Reichstag aber abgelehnt ist, sofort von neuem dem Reichs- 
tag vorgelegt wird, wenn dies politisch zweckmäßig erscheint, und genau 
dasselbe gilt von den Gesetzentwürfen, die aus der Initiative des Reichs- 
tags entsprungen find. Für die letzteren Gesetzentwürfe ist dies unbestritten. 
Dagegen ist — mit Unrecht — dem Bundesrat von einzelnen Mitgliedern 
des Reichstags das gleiche Recht bestritten worden. Mit Bezug hierauf hat 
Fürst Bismarck in der Reichstagssitzung v. 4. März 1881 St. B. 153 erklärt: 
„Es heißt die Gleichberechtigung der beiden gesetzgebenden Faktoren 
des Reichs in Zweifel ziehen, wenn man sagt, daß eine vom Reichstag 
abgelehnte Sache, wenn sich die Verbündeten Regierungen von der Un- 
richtigkeit ihrer Auffassung nicht überzeugen können, nicht wieder in der- 
selben Form vorgelegt werden dürfe." 
Selbstverständlich ist auch in der Wiederholung der Ablehnung des 
Entwurfs keine der beiden Körperschaften beschränkt, und es kann in einer 
Wiederholung der Ablehnung ebensowenig ein Verstoß gegen den Geist der 
Verfassung gefunden werden, als darin unzweifelhaft keine Übertretung des 
Wortlauts der Verfassung liegt. Auch dies bedarf einer besonderen Er- 
wähnung nur, weil im Reichstag einige Male wegen der wiederholten 
Ablehnung seiner Initiativanträge der Vorwurf einer Verletzung der kon- 
stitutionellen Idee oder wenigstens der einer Nichtbeachtung des Reichstags 
gegen den Bundesrat erhoben wurde. Tatsächlich ist der Bundesrat in 
seiner auf Grund des Art. 7 Ziff. 1 zu fassenden Entschließung mangels 
einer entgegenstehenden Verfassungsbestimmung frei und handelt verfassungs- 
mäßig, wenn er einen noch so oft gefaßten Beschluß des Reichstags ab- 
lehnt; ebenso steht es im Belieben des Reichstags, eine an ihn wiederholt 
gebrachte Vorlage immer wieder abzulehnen; vgl. die Ausführungen des 
Staatssekretärs des Reichs-Justizamts Nieberding in der Reichstagssitzung 
v. 11. Jan. 1905 St. B. 3684 C und des Staatssekretärs des Reichsschatzamts 
Sydow in der Reichstagssitzung v. 16. März 1908 St. B. 3980C. 
c) Die Rücknahme gefaßter Beschlüsse, eine Ausnahme von der Gleichberechtigung. 
Ein Unterschied zwischen der Stellung des Bundesrats und des Reichs- 
tages bei der Gesetzgebung ergibt sich daraus, daß der Bundesrat nach 
Art. 7 Ziff. 1 R.V. über alle Beschlüsse, die der Reichstag auf die ihm 
gemachten Vorlagen faßt, seinerseits noch zu beschließen hat. Nach all- 
gemeinen und in unbestrittener Geltung befindlichen Rechtsgrundsätzen ist 
dagegen der Reichstag gebunden, sobald er in letzter Lesung über die ihm 
vom Bundesrat zugegangene Vorlage oder über einen seiner Initiative 
entsprungenen Gesetzentwurf einen Beschluß gefaßt hat und dieser Beschluß 
dem Bundesrat zugegangen und von ihm gemäß Art. 7 Ziff. 1 R.V. an- 
genommen ist. Der Bundesrat kann aber, selbst wenn dem Beschluß eine 
von ihm ausgegangene und vom Reichstag unverändert angenommene Vor- 
lage zugrunde liegt, dem Entwurf in dem auf Grund des Art. 7 Ziff. 1 
von ihm zu fassenden Beschlusse dennoch seine Genehmigung versagen. Dies 
kann z. B. wegen Veränderung der politischen Lage und Wegfall der Voraus- 
setzungen geschehen, von denen der Bundesrat bei Einbringung der Vorlage 
ausgegangen ist. Die Reichsverfassung gestattet es, indem sie dem Bundesrat 
die nochmalige Beschlußfassung über die aus dem Reichstag an ihn ge- 
langenden, vom Reichstag angenommenen Vorlagen zuweist, und da über
	        
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