306 IV. Präsidium. Art. 11.
angehdrigen Gründe vorliegen, z. B. Nichterfüllung des Vertrages durch das
Ausland, welche Repressalien des Reichs rechtfertigt, Einspruch einer dritten
Macht, der als gerechtfertigt anerkannt werden muß, eine wesentliche
Anderung der Verhältnisse, bei deren Vorausficht der Vertrag nicht ge-
schlossen worden wäre u. a. Sind solche oder die vertragsmäßigen Voraus-
setzungen für die Kündigung gegeben, so ist die Kündigung lediglich Sache
des freien Willensentschlusses des Kaisers; er kann den Vertrag, ohne an
die Mitwirkung des Bundesrats oder Reichstags gebunden zu sein, ins-
besondere auch deshalb kündigen, weil er die Fortsetzung des Vertragsver-
hältnisses als den Interessen des Reichs nicht mehr entsprechend anfieht.
Der abweichenden Ansicht Laband's II S. 154 A. 1 kann nicht beigetreten
werden. Laband nimmt zwar an, daß in der Genehmigung der Kündigungs-
klausel durch den Bundesrat und Reichstag zugleich die Ermächtigung für
den Kaiser liegt, den Vertrag selbständig außer Kraft zu setzen, sobald die
Voraussetzungen für die Kündigung, d. h. der dafür bestimmte Zeitpunkt
eingetreten ist. Von dem hier vertretenen, auf den Wortlaut des Art. 11
gestützten Standpunkt aus bedarf es dieser Ermächtigung nicht; auch wenn
der Vertrag keine Kündigungsklausel enthält, ist der Kaiser dem Bundes-
rat und Reichstag gegenüber an keine Zeitgrenze gebunden, sondern er ist
nur dem Auslande gegenüber gebunden und kann den Vertrag jederzeit
aufheben, sobald mit dem betreffenden Auslandsstaate eine nachträgliche
Einigung über die Aufhebung des Vertrages zustande gekommen ist oder
sobald die oben erwähnten Fälle eingetreten find, die aus Gründen des
Völkerrechts zur einseitigen Aufhebung des Vertrages berechtigen, und zwar
ist die Wahrnehmung dieses Rechts auf Grund des Art. 11 Abs. 1 eine
ausschließliche Prärogative des Kaisers; vgl. Müller, Zolltarif, Reichsver-
fassung, Geschäftsordnung des Reichstags in Hirth's Annalen 1902 S. 733ff.
Eine Bestätigung hierfür kann aus folgendem Vorgang entnommen werden,
bei dem es sich zwar in tatsächlicher Beziehung um eine andere als die
vorliegende Frage handelte, der aber dem Reichskanzler Veranlassung zu
einer allgemeinen, auch die vorliegende Frage beantwortenden Erklärung
gab. Zur dritten Beratung der Brüsseler Zuckerkonvention war ein Antrag
Herold und Gen. gestellt worden:
„Daß die Ratifikation der Brüsseler Konvention nicht früher erfolgen
darf, als das Gesetz wegen Abänderung des Zuckersteuergesetzes im Reichs-
gesetzblatt veröffentlicht ist und daß zu einer Verlängerung der Konvention
die Zustimmung des Reichstags erforderlich ist."
Gegen diesen Antrag wandte der Präfident des Reichstags Graf Ballestrem
in der Reichstagssitzung v. 11. Juni 1902 St.B. 5609 A folgendes ein:
„Unsere Geschäftsordnung kennt nur zwei Wege, auf denen Vorlagen
der Verbündeten Regierungen verabschiedet werden. Diese werden, nachdem
sie eventuell geschäftsordnungsmäßig abgeändert sind, vom Reichstag an-
genommen oder abgelehnt. Eine Annahme, die an Bedingungen, Voraus-
setzungen oder Erwartungen geknüpft ist, kennt unsere Geschäftsordnung
nicht. Daher bin ich nicht in der Lage (den Antrag ad 1 der Kommission
sowie) den Antrag Herold mit dem dazu gestellten Zusatzantrag hier zur
Abstimmung zu bringen.“
Hierzu ist zu bemerken, daß der Reichstag Staatsverträge im Gegensatz
zu Gesetzen nicht amendieren darf — vgl. oben III 2 S. 299f. — und da