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Gebiet — und ferner, daß sie einen großen Teil der Staatshoheitsrechte,
die für die Staatsgewalt, die höchste Macht im Staate, wesentlich sind,
insbesondere die sogen. kulturellen Aufgaben des Staates, als die Aufsicht
über die Kirche und Schule, die Rechtspflege, die innere Verwaltung, nicht
umfaßt. Der Grund hierfür ergibt sich aus der staatlichen Eigenart des
Reichs. Das Reich ist aufgebaut auf der Existenz von 25 selbständigen
Staaten, von denen jeder seine eigene, die Fragen der sogen. Grundrechte
und die wichtigsten Staatsfunktionen regelnde Verfassung früher schon gehabt
und auch nach der Gründung des Reichs behalten hat, und die Reichs-
gewalt beruht nur darauf, daß die Einzelstaaten, einzelne, freilich sehr
wichtige Staatsfunktionen, namentlich militärischer und wirtschaftlicher Natur,
auf das Reich übertragen haben. Die Gesetzgebung ist dem Reiche zwar
in weiterem Umfange zugewiesen worden als die Verwaltung, aber auch
nur in bestimmten Grenzen.
Für die Abgrenzung der Kompetenz zwischen Reich und Einzelstaaten
ist ein aus der Entstehungsgeschichte des Reichs sich ergebendes Moment
von besonderer Bedeutung. Es waren unabhängige Staaten, die sich in
den Jahren 1867 und 1870 zur Errichtung des Norddeutschen Bundes
und des Reichs verbunden haben, und der Zusammenschluß dieser Staaten
zum Reich entsprang, mag auch in der damaligen politischen Situation ein
noch so starker Druck gelegen haben, ihrem freien, d. h. durch keine staats-
oder völkerrechtliche Verpflichtung gebundenen Willensentschluß. Aus diesem
Faktor in Verbindung mit dem pofsitiven Verfassungsinhalt ist der für die
Abgrenzung der Kompetenz zwischen Reich und Einzelstaaten wichtige Schluß
zu ziehen, daß die Einzelstaaten selbständige Staatswesen geblieben find und
dem Reiche nur diejenigen Machtbefugnisse übertragen haben, auf die von
ihnen nach der Verfassung und der die letztere ergänzenden Reichsgesetzgebung
ausdrücklich verzichtet worden ist; die Einzelstaaten haben das Reich gegründet,
nicht umgekehrt, und aus dieser Priorität der Einzelstaaten muß in zweifel-
haften Kompetenzfragen der entsprechende Schluß gezogen werden.
In der Thronrede v. 24. Febr. 1867 St. B. 1 ist der dem Reichstag
vorgelegte Entwurf der Norddeutschen Bundesverfassung dahin charakterifiert:
„Daß die Verbündeten Regierungen im Anschlusse an gewohnte
frühere Verhältnisse sich über eine Anzahl bestimmter und begrenzter,
aber praktisch bedeutsamer Einrichtungen verständigt haben, die ebenso im
Bereiche der unmittelbaren Möglichkeit wie des zweifellosen Bedürfnisses
liegen."
Die Thronrede lautet dann in ihrem nächsten Satz:
„Der Ihnen vorzulegende Verfassungsentwurf mutet der Selbständigkeit
der Einzelstaaten zugunsten der Gesamtheit nur diejenigen Opfer zu,
welche unentbehrlich sind, um den Frieden zu schützen, die Sicherheit des
Bundesgebietes und die Entwicklung der Wohlfahrt seiner Bewohner zu
gewährleisten."
Mit anderem Ausdruck, aber mit demselben Gedankeninhalt ist die
Tatsache, daß die Funktionen des Reichs begrenzt, die der Einzelstaaten
unbegrenzt sind (immer unbeschadet der Klausel des Art. 78), ausgeführt in
nachstehender, die Einbringung des Verfassungsentwurfs begründender Er-
klärung des Fürsten Bismarck v. 11. März 1867 St. B. 136: