360 IV. Präsidium. Art. 17.
dieser Redner folgen wollte, so müßte man zu dem Schluß kommen, daß
ohne das parlamentarische System die politische Ministerverantwortlichkeit
bedeutungslos wäre oder daß es mindestens besonderer positiver Bestim-
mungen der Verfassung bedürfte, die diese politische Verantwortlichkeit zu
einer juristischen umgestalteten, d. h. bestimmte Rechtsnachteile den Ministern
androhten, die sich politisch verantwortlich gemacht haben. Ob dies über-
haupt möglich wäre, ohne das parlamentarische System re vera einzuführen,
muß bezweifelt werden; denn die ordentlichen Gerichte sollen, wie der Abg.
Braun ausgeführt hat und wie überhaupt im Sinne der Vertreter dieses
Standpunktes liegt, zur Entscheidung über die politische Verantwortlichkeit
nicht geeignet sein; jeder ad hoc gebildete Gerichtshof aber müßte, wenn
die Verantwortlichkeit im Sinne der Mehrheit der Volksvertretung geltend
gemacht werden soll, ein von der Parlamentsmehrheit abhängiges Organ
sein, und diesem Organ die Entscheidung anvertrauen, würde bedeuten,
das Parlament zum Richter auch über die Verwaltungstätigkeit der Regie-
rung zu bestellen. Wer aber in Fragen, für welche die Gesetzgebung
bindende Normen nicht gibt, Richter ist, ist auch der Herr, und deshalb
läuft jede Ausgestaltung der politischen Verantwortlichkeit im Sinne der
Bildung eines vom Parlament abhängigen Gerichtshofes praktisch auf die
mittelbare Einführung des parlamentarischen Regierungssystems hinaus.
Es genügt vielmehr, daß das Prinzip der Verantwortlichkeit überhaupt
besteht, und je nachdem das von den Bestimmungen der Verfassung nicht
allein abhängige Verhältnis zwischen Krone und Volksvertretung der ersteren
oder der letzteren das Übergewicht an Macht verleiht, werden die Minister
sich genötigt sehen, in Streitfällen ihre Stellung einzurichten; vgl. die
Ausführungen des Abg. Planck in der Sitzung des konst. Reichstages v.
26. März 1867 St. B. 359. Der politischen Verantwortlichkeit des Reichs-
kanzlers dem Reichstag gegenüber wird dadurch der Weg eröffnet, daß der
Reichskanzler und seine verantwortlichen Stellvertreter, die Staatssekretäre
der obersten Reichsämter, nach § 35 des Reichsbeamtengesetzes R.G. Bl. 1907
S. 252 jederzeit ihre Entlassung fordern können. Dadurch find der Reichs-
kanzler und seine Stellvertreter auch dem Monarchen gegenüber in die Lage
versetzt, ihr Verbleiben im Amte unter Umständen von gewissen Bedingungen
abhängig zu machen und damit dem Gefühl der Verantwortung zu genügen,
das sie der Volksvertretung und der öffentlichen Meinung gegenüber empfinden.
Der Reichstag kann also den Reichskanzler nicht absetzen, aber er kann
ihn befragen (interpellieren) und seinen politischen Maßnahmen mit Kritik
begegnen, an gegebene Zusagen erinnern usw. In Ansehung der Gesetz-
gebung und der Bewilligung von Einnahmen und Ausgaben kann er zu-
stimmen oder ablehnen. Für die auf den einzelnen Fall bezüglichen und
durch den einzelnen Fall erschöpften reinen Verwaltungsmaßregeln wird dem
Reichstag ein Anspruch auf Kritik und Befragung der Regierung nur so weit
zugestanden werden können, als die Gesetzmäßigkeit der Maßregel oder die
Einhaltung des Etats beanstandet wird. Auf Bedenken, die gegen ihre
Zweckmäßigkeit obwalten, kann die Kritik nicht gestützt werden. Dies wäre
ein Eingriff in die ausschließliche Prärogative der Exekutivbehörden, des
Reichskanzlers und auch des Bundesrats, soweit der letztere für die Exekutive
zuständig ist. Denn der Reichskanzler ist dem Reichstag nicht für die Zweck-
mäßigkeit, die Opportunität seiner Verwaltungsmaßnahmen, die ihnen zu-