362 IV. Präsidium. Art. 17.
Will man noch zwischen moralischer und politischer Verantwortlichkeit
unterscheiden, so ist der Unterschied so weit berechtigt, als ein begrifflicher
Unterschied zwischen Moral und Politik anzuerkennen ist. Die politische Ver-
antwortung des Ministeriums kann namentlich in parlamentarisch regierten
Staaten unter Umständen das Ergebnis einer reinen Machtfrage sein, wäh-
rend die moralische Verantwortung mit Machtfragen natürlich nichts zu tun
hat und nur nach den überlieferten und allgemein anerkannten Gesichts-
punkten der Ethik bejaht oder verneint werden kann.
Durch Art. 17 ist nur die Verantwortung für kaiserliche Erlasse dem
Reichskanzler besonders übertragen, weil fie nicht lediglich oder nicht not-
wendig das Produkt seines eigenen Willensentschlusses find. Für diejenigen
Geschäfte, die der Reichskanzler ohne die Unterlage eines kaiserlichen Erlasses
leitet, ergibt sich die juristische Verantwortung aus den allgemeinen, für
alle Reichs= und Staatsbeamten gültigen Vorschriften des bürgerlichen und
Strafrechts. Die moralische Verantwortung ist selbstverständlich und hätte
auch für die Gegenzeichnung kaiserlicher Erlasse keines positiven Ausdrucks
in der Verfassung bedurft, wie sie überhaupt ihrem Wesen nach der juristischen
Fassung sich entzieht. Sie steht an Bedeutung im Vordergrund, weil das
Gebiet der juristischen Verantwortung überhaupt verhältnismäßig nicht groß
ist und weil Personen gegenüber, die an hervorragender Stelle stehen, der
Druck der moralischen Verantwortung stärker ist als jeder andere. In der
vorkonstitutionellen Zeit hat die juristische Verantwortung der Minister
höchstens für schwere Kriminalfälle eine Rolle gespielt, und das Gewicht der
moralischen Verantwortung reichte vollkommen für den Gang der Staats-
geschäfte aus. Endlich ist zu beachten, daß gerade die Leiter der Regierungs-
geschäfte eine weite Bewegungsfreiheit innerhalb der geltenden Gesetze haben,
die ihnen die Möglichkeit gibt, viel Gutes und Schlechtes zu tun, ohne daß
der Fall ihrer juristischen Verantwortung je eintritt, der — wenn die Geltend-
machung der Verantwortung nicht eine reine Machtfrage sein soll — stets
eine Gesetzesverletzung voraussetzt; ebenso im Ergebnis die Abg. v. Sybel
und v. Watzdorf (Staatsminister von Sachsen-Weimar) in der Sitzung
des konst. Reichstags v. 23. März 1867 St. B. 327 und 338; vgl. ferner
Fürst Bismarck in der Reichstagssitzung v. 25. Jan. 1873 St. B. 765 und
württembergischer Staatsminister v. Mittnacht in der Reichstagssitzung v.
5. März 1878 St. B. 336.
b) Die juristische Berantwortung.
Der Reichskanzler ist für alle Verwaltungsgeschäfte seines Ressorts, die
lediglich von seinem Willensentschluß abhängen, nach Maßgabe der all-
gemeinen civil= und strafrechtlichen Vorschriften juristisch verantwortlich.
Diese Verantwortung ist ihrem Wesen nach von der aller anderen Reichs-
beamten nicht unterschieden. In ihr kommt kein besonderes staatsrechtliches
Prinzip zur Erscheinung. Sie bedurfte deshalb keines pofitiven Ausdrucks
in der Reichsverfassung und hat einen solchen auch nicht erhalten. Anders
liegt das Rechtsverhältnis bezüglich der kaiserlichen Erlasse. Hier würde
nach allgemeinen Rechtsbegriffen dem Reichskanzler nicht die Verantwortung
zur Last zu legen sein, weil sie de jure nicht seine eigenen Willensentschlüsse
sind. Es ist eine Konsequenz, die das Staatsrecht aus der Unverletzlichkeit
des Monarchen gezogen hat, daß der Reichskanzler für solche Erlasse gemäß