V. Reichstag. Art. 20. 395
die Genehmigung des Reichstags für einen großen Teil der Staatsverträge
des Reichs erforderlich und für manche Verordnungen nach besonderer Vor-
schrift der Reichsgesetze, auf denen die Verordnungen beruhen. Der materielle
Unterschied zwischen dieser Form der Mitwirkung des Reichstags und seiner
Mitwirkung im Falle der Reichsgesetzgebung beruht darin, daß dort, wo
lediglich die Genehmigung des Reichstags einzuholen ist, von ihm die
Vorlage der Verbündeten Regierungen nur im ganzen angenommen oder
abgelehnt werden kann; val. Art. 5 A 3a S. 173 und Art. 11 C III 2
S. 299f.
f b) Der Reichstag als Bertreter der Nation gegenüber
partikularistischen Tendenzen.
Als der Norddeutsche Bund gegründet wurde, standen die Verbündeten
Regierungen, die eine Volksvertretung für den neuen Bund einrichten
wollten, vor der Frage, ob eine aus Vertretern der einzelstaatlichen Parla-
mente zusammengesetzte Versammlung, also eine Delegiertenversammlung
oder eine unmittelbar aus Volkswahlen hervorgegangene Vertretung geschaffen
werden sollte. Dem österreichischen Projekt für die Rekonstruktion des
alten Bundes entsprach die erstere Form, die Delegierlenversammlung;
Preußen dagegen wollte mit einer aus unmittelbaren Wahlen hervor-
gegangenen Volksvertretung die Einheit der Nation schmieden und sah darin
ein Palliativ gegen den Partikularismus. Dieser Plan war bereits von
der preußischen Regierung i. J. 1863 gefaßt worden, als das österreichische
Reformprojekt zur Verhandlung kam. In dem hierzu dem König von
Preußen vom Staatsministerium erstatteten Bericht v. 15. Dez. 1863
(Staatsarchiv VIII S. 206ff) ist näher ausgeführt, daß eine Delegierten-
versammlung schon durch ihren Ursprung auf die Vertretung von Parti-
kularinteressen hingewiesen sei und daß nur eine Versammlung, die aus
dem ganzen Deutschland nach dem Maßstab der Bevölkerung durch direkte
Wahlen hervorgehe, eine ausreichende Garantie gegenüber dem zu erwarten-
den partikularistischen und dynastischen Interessenkampf biete.
In Konsequenz dieser Auffassung bestimmt Art. 29 R.V., daß jeder
Reichstagsabgeordnete Vertreter des gesamten Volkes ist. Gemeint kann
damit nur das ganze deutsche Volk sein und nicht etwa, wie von v. Seydel
in der 1. Aufl. seines Kommentars (Vorbemerkung zum V. Absch.) ange-
nommen, aber sonst allseitig abgelehnt wurde, nur die Einwohner des
Staatsgebietes, in welchem der Abgeordnete gewählt ist. Die letztere Auf-
fassung steht im direkten Widerspruch zu der in dem Bericht von 1863
kundgegebenen Generalidee, welcher der Reichstag seine Entstehung verdankt.
Gleich vielen Institutionen der Reichsverfassung liegt hier ein Kompro-
mißgedanke zugrunde. Die Reichsverfassung sollte aus der bisherigen Zerissen-
heit unabhängiger Staatsgebilde ein einiges Deutschland schaffen, während
andererseits die Einzelstaaten keineswegs verschwinden, sondern für viele
und wichtige Staatsaufgaben ihre staatliche Selbständigkeit behalten sollten.
Es mußte also auf der einen Seite die Einheit, auf der anderen Seite
die Selbständigkeit der einzelnen Bundesstaaten geltend gemacht werden.
Der letzteren Aufgabe wird der Bundesrat gerecht. Er hat einen ausgesprochen
föderativen Charakter. Es ist nicht seine einzige, aber eine seiner wesent-
lichen politischen Aufgaben, die Interessen der Einzelstaaten bei der Reichs-
gesetzgebung zu wahren, Interessen, die auch in den einheitlich geregelten