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oder anderen Wahlklasse zu entscheiden. Bedenklicher ist schon — was
Fürst Bismarck ebenfalls gestreift hat —, daß nachdem einmal der Besitz
zur Grundlage des Wahlrechts genommen war, dieses Prinzip insofern nicht
rein durchgeführt wurde, als nach dem bestehenden System der Besitz ganz
verschieden wirkt, je nach der finanziellen Leistungsfähigkeit der Gesamtheit
der zu einem Wahlbezirk gehörigen Personen. Es können in einem Be-
zirk, in welchem einige wenige sehr reiche Leute wohnen, Personen in die
dritte Klasse verwiesen sein, deren Einkommen noch um ein Vielfaches das
Einkommen von anderen Wählern übersteigt, die in einem benachbarten
Wahlbezirk der ersten Klasse angehören. Gegen diesen Mangel des preußischen
Systems wandte sich mit zutreffender Kritik der preuß. Staatsminister Graf
zu Eulenburg in der Sitzung des konst. Reichstags v. 15. April 1867
St. B. 718 und wies dabei besonders darauf hin, daß diese auf äußeren,
wahltechnischen Gründen beruhende Zersplitterung der Wählerschaft in sehr
kleine Urwahlbezirke mit der Idee des Dreiklassen -Wahlsystems nicht im
notwendigen Zusammenhange steht.
Um die scharfe Kritik des Fürsten Bismarck zu verstehen, muß man
auch berücksichtigen, daß aus dem preußischen Wahlsystem in dem Anfang
der Sechziger Jahre ein Parlament hervorgegangen ist, das wie kein anderes
der Regierung, insbesondere dem Fürsten Bismarck feindlich gegenüber stand.
Es ist deshalb nur zu begreiflich, daß Fürst Bismarck aus den Früchten
des Systems einen ungünstigen Schluß auf das System selbst zog. Auf
die angeführte Außerung des Fürsten Bismarck hat man ssch bei allen An-
griffen auf das preußische Wahlrecht bezogen. Mit Recht hat bei einer
solchen Gelegenheit der Staatssekretär des Innern Graf Posadowsky-Wehner
in der Reichstagssitzung v. 7. Febr. 1906 St. B. 1088 A darauf hingewiesen,
daß ihm keine urkundliche Tatsache bekannt sei, nach der Fürst Bismarck
auch nur irgend einen Anfang eines Versuchs gemacht hätte, dieses Wahl-
recht zu ändern, ja nicht einmal eine urkundliche Außerung des Fürsten
Bismarck, die erkennen ließe, daß er zu einer Anderung des preußischen
Wahlrechts gewillt gewesen sei.
b) Die politische Situation bei Einführung des Wahlrechts.
Es ist nicht anzunehmen, daß der vor inneren Reformen nicht leicht
zurückschreckende erste Reichskanzler während seiner ganzen Amtsperiode das.
preußische Wahlsystem hingenommen hätte, ohne auch nur eine Anderung
zu versuchen, wenn wirklich die in seiner Rede v. 28. März 1867 kund-
gegebene Kritik für ihn die Frage des Wahlrechts erschöpft hätte. Aus-
einer späteren Veröffentlichung des Fürsten Bismarck kann man sogar mit
ziemlicher Sicherheit schließen, daß es in erster Reihe nicht sowohl die
Abneigung gegen das preußische Wahlsystem als Rücksichten auf das Aus-
land waren, die den Fürsten Bismarck bestimmten, für das allgemeine
Wahlrecht einzutreten, Gründe, über die sich Fürst Bismarck aus leicht
erkennbaren diplomatischen Rücksichten i. J. 1867 noch nicht aussprechen
wollte. Es war sein Wunsch, alle populären Kräfte, und vielleicht nicht
nur die des Inlands sich moralisch zu erobern, um durch diesen moralischen
Druck die den deutschen Einheitsbestrebungen zum Teil nicht wohlwollenden
ausländischen Kabinette abzuwehren; zu vgl. folgende Stelle aus Kap. 21 III
seiner „Gedanken und Erinnerungen“: