V. Reichstag. Art. 20. 403
„Im Hinblick auf die Notwendigkeit, im Kampfe gegen eine Über-
macht des Auslands im äußersten Notfall auch zu revolutionären Mitteln
greifen zu können, hatte ich auch kein Bedenken getragen, die damals
stärkste der freiheitlichen Künste, das allgemeine Wahlrecht, schon durch
die Cirkulardepesche vom 10. Juni 1866 mit in die Pfanne zu werfen,
um das monarchische Ausland abzuschrecken von Versuchen, die Finger
in unsere nationale omelette zu stecken. Ich habe nie gezweifelt, daß
das deutsche Volk, sobald es einfieht, daß das bestehende Wahlrecht eine
schädliche Institution sei, stark und klug genug sein werde, sich davon
frei zu machen. Kann es das nicht, so ist meine Redensart, daß es
reiten könne, wenn es erst im Sattel säße, ein Irrtum gewesen. Die
Annahme des allgemeinen Wahlrechts war eine Waffe im Kampfe gegen
Osterreich und weiteres Ausland, im Kampfe für die deutsche Einheit,
zugleich eine Drohung mit letzten Mitteln im Kampfe gegen Koalitionen.
In einem Kampfe derart, wenn er auf Tod und Leben geht, sieht man
die Waffen, zu denen man greift, und die Werte, die man durch ihre
Benutzung zerstört, nicht an: Der einzige Ratgeber ist zunächst der Erfolg
des Kampfes, die Rettung der Unabhängigkeit nach außen; die Liqui-
dation und Aufbesserung der dadurch angerichteten Schäden hat nach
dem Frieden stattzufinden.“
Die Gefahr, die vom Ausland durch Koalitionen drohte, hatte im
Innern ein Seitenstück in dem Konflikt, den die preußische Regierung unter
Leitung des Fürsten Bismarck mit dem Abgeordnetenhause sechs Jahre
lang durchgeführt hatte, bis der siegreiche Krieg von 1866 eine Lösung
brachte. Die Volksvertretung, mit der die Regierung in den Konflikt geriet,
war aus dem Dreiklassen-System hervorgegangen, und trotz wiederholter
Auflösungen wurde Jahr um Jahr auf Grund dieses Wahlsystems ein
Parlament gewählt, das in seiner ganz überwiegenden Mehrheit mit der
Regierung wegen einer Militärfrage in unlösbaren Widerspruch kam, und
zwar wegen einer Frage, für die der König selbst sich engagiert hatte.
Obwohl eine Außerung des Fürsten Bismarck nicht bekannt ist, daß die
Erinnerung hieran für ihn bei der Vertretung des allgemeinen Wahlrechts
mitbestimmend war, bestehen Gründe innerer Wahrscheinlichkeit dafür, daß
dies doch der Fall gewesen ist.
Im konst. Reichstage kennzeichnete der Abg. v. Sybel in seiner
bekannten Rede v. 23. März 1867 St. B. 325 die der Verfassung zugrunde
liegende Idee dahin, daß nach den inneren und äußeren Kämpfen, die
Deutschland i. J. 1866 durchzuführen hatte, drei starke Machtfaktoren
übrig geblieben seien, von denen ein jeder durch die neue Verfassung den
ihm gebührenden Anteil an der Entwicklung des neuen Reichs hätte erhalten
müssen: „Das starke und siegreiche Preußen“, die deutschen Partikular-
staaten „machtvoll durch die historische Überlieferung und durch höchst reale
Sympathieen in der heimischen Bevölkerung", und die liberale öffentliche
Meinung, von der Sybel sagte, daß sie ungeachtet der Niederlage, die sie
in dem erfolglosen Kampfe gegen Bismarck erlitten hatte, „in dem ganzen
Zusammenhange der europäischen Verhältnisse noch immer so gewaltig
gewesen sei, daß auch die stärkste Militärmonarchie auf die Dauer die Feind-
schaft dieser geistigen Gewalten nicht würde ertragen können“. Im Ver-
laufe dieses Gedankengangs kam der Redner zu dem Schluß, daß, um den
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