Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

404 V. Reichstag. Art. 20. 
vorhandenen Machtfaktoren und ihren berechtigten Ansprüchen Rechnung zu 
tragen, die Krone Preußen das Bundes-Präsidium, die kleineren Staaten 
den Bundesrat und die durch die damalige liberale Partei repräsentierte 
bffentliche Meinung den Reichstag erhalten habe. Die Schaffung des 
Reichstages wurde also als eine Konzession zugunsten der auf dem Stand- 
punkt der damaligen großen nationalliberalen Partei beruhenden öffentlichen 
Meinung angesehen. Dies mag richtig sein, doch liegt darin kein Gegen- 
satz zu der hier als wahrscheinlich vertretenen Ansicht, daß Fürst Bismarck 
bei der Einrichtung des Reichstags gleichzeitig an eine Bekämpfung seiner 
Konfliktsgegner dachte. Was die öffentliche Meinung damals erforderte 
und in dem Reichstage erhielt, war eine konstitutionelle Garantie für eine 
starke Mitbeteiligung des Volks an der Leitung des Staatswesens; dazu 
genügte eine Volksvertretung mit den denkbar weitreichenden Kompetenzen, 
wie sie dem Reichstag — der kein Oberhaus an der Seite hat — zur 
Verfügung stehen. Aber eine andere Frage ist es, ob die öffentliche 
Meinung dieses radikale Wahlrecht erforderte oder ob Fürst Bismarck dabei 
nicht eher im Auge hatte, aus dem Volksleben neue politische Kräfte zur 
Entwicklung zu bringen, mit denen er eventuell die politischen Doktrinen, 
von denen aus ihm der Konflikt bereitet worden war, im Schach halten 
konnte; vgl. Staatssekretär des Innern Graf Posadowsky-Wehner in der 
Reichstagssitzung v. 7. Febr. 1906 St. B. 1087. 
c) Die Gründe für die Allgemeinheit des Wahlrechts. 
Starke politische Motive, die sich aus der Stellung des neuen Reichs 
zum Ausland ergaben, lagen bei der Gründung des Reichs vor, das 
preußische Wahlsystem nicht zu übernehmen. Es wurde also ein anderes 
Wahlrecht konstituiert, und zwar nicht nach irgendeiner Tradition, sondern 
ohne jeden Vorgang wurde ein Wahlsystem geschaffen, das zu den radikalsten 
der Welt gehört und durch drei Momente charakterisiert wird: Die Gleich- 
heit des Wahlrechts, das, ohne an irgendeine Frist des Wohnsitzes geknüpft 
zu sein, jedem über 25 Jahre alten Manne zusteht, die direkte Wahl und 
die geheime Stimmenabgabe. 
Der Radikalismus kommt am meisten in dem ersten Moment zutage, 
insbesondere in dem beispiellosen Modus, daß das Wahlrecht nicht nur 
ein absolut gleiches, sondern nicht einmal an irgendeine Frist des Wohn- 
sitzes geknüpft ist. Fürst Bismarck wies in der Reichstagssitzung v. 28. März 
1867 darauf hin, daß das allgemeine Wahlrecht, da es aus der Frank- 
furter Reichsverfassung von 1849 stamme, als ein „Erbteil der Entwick- 
lung der deutschen Einheitsbestrebungen überkommen sei"“. Dies ist richtig, 
aber i. J. 1849 handelte es sich nur um einen Entwurf und es ist dabei nur 
an die allgemeine Struktur des Wahlrechts gedacht und nicht an die 
besondere Ausgestaltung, die es durch das Wahlgesetz noch im Sinne einer 
Steigerung des Radikalismus erfahren hat. Dafür, daß das Wahlrecht des 
Reichstags, insbesondere wegen des Mangels einer Fristbestimmung für 
neu angefiedelte Personen, ein non plus ultra an Radikalismus und mit 
den in den Süddeutschen Staaten eingeführten Wahlsystemen nicht zu ver- 
gleichen ist, hat sich namentlich der Staatssekretär des Innern Graf 
Posadowsky-Wehner in der Reichstagssitzung v. 7. Febr. 1906 St.B. 1088D 
ausgesprochen. Dort (St.B. 1087 B hat der Staatssekretär auch darauf
	        
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