V. Reichstag. Art. 20. 405
hingewiesen, daß wahrscheinlich bei Einführung des allgemeinen Wahlrechts
für den Fürsten Bismarck die Erfahrungen mitbestimmend waren, die man
in Frankreich damals gerade mit dem allgemeinen Wahlrecht gemacht hatte,
wo sich aus diesem System — anfangs und damals noch — eine starke
Stütze für das zweite Kaiserreich ergab. Fürst Bismarck hat sich zwar
in seiner Reichstagsrede v. 28. März 1867 St. B. 429 (vgl. auch Rofin,
Grundzüge S. 52) dagegen verwahrt, daß ihm das allgemeine Wahlrecht
Mittel zum Zweck gewesen sei, in Verbindung mit den breiten Massen des
Volks ein zäsarisches Regiment zu errichten, aber die Richtigkeit dieses
Dementis, mit dem nur extreme Schlüsse abgelehnt werden, schließt die
Richtigkeit der Annahme des Staatssekretärs nicht aus, daß die vom
Fürsten Bismarck in seiner Pariser Botschafterstellung beobachteten Erfolge,
welche die Napoleonische Regierung aus diesem Wahlsystem gezogen hatte,
für ihn bei der Übertragung des Systems auf Deutschland mitbestimmend
waren; die Folgezeit hat allerdings ergeben, daß das System in Deutsch-
land andere Wirkungen hat als in Frankreich, da der Einfluß der Regie-
rungsorgane auf die breiten Massen der Wählerschaft bei uns nicht
annähernd derselbe ist wie in Frankreich.
Andererseits ist nicht anzunehmen, daß lediglich diese taktischen, auf
die Stützung der Regierung und insbesondere des kaiserlichen Regiments
berechneten Erwägungen den Fürsten Bismarck bei der Einführung des all-
gemeinen Wahlrechts beherrscht haben. Wahrscheinlich ist vielmehr, daß
für den Fürsten Bismarck bei der Entscheidung für dieses Wahlsystem die-
selben Gesichtspunkte mitbestimmend waren, unter denen noch jetzt gegenüber
den Angriffen, die von verschiedenen Seiten auf das Reichstagswahlrecht
wie auf das preußische Dreiklassensystem erhoben werden, von der Reichs-
verwaltung die differentielle Behandlung des Reichs und Preußens in An-
sehung des Wahlsystems verteidigt wird; vgl. insbesondere Reichskanzler Fürst
Bülow in der Reichstagsfitzung v. 26. März 1908 St. B. 4288. Dies find
folgende Gesichtspunkte, die hier nur objektiv wiedergegeben werden, da ihre
“ rl oder Leugnung lediglich in das Gebiet der praktischen Politik
gehört. Z
Für das preußische Dreiklassensystem bildet die Grundlage der Besitz.
Der Besitz ist aber, wie der Staatssekretär Graf Posadowsky-Wehner einmal
bemerkte, weder eine Tugend noch — in vielen Fällen — ein Verdienst,
er ist nur eine Tatsache. Man kann es rechtfertigen, daß er für die Teil-
nahme an der Gesetzgebung Preußens und anderer Einzelstaaten eine große
Rolle spielt, ohne damit ihm die gleiche Bedeutung für die Mitwirkung
bei der Reichsgesetzgebung zuzuerkennen. In den Einzelstaaten werden vor-
wiegend Staatsaufgaben behandelt, an denen die verschiedenen sozialen
Schichten differentiell interessiert find, z. B. direkte Steuern, Eisenbahnwesen
und Verwaltung sonstiger Staatsbetriebe, die Schule in ihren verschiedenen
Gattungen, die innere Verwaltung und dergl. Bezüglich der Kirche und
Rechtspflege besteht eine solche Interessendifferenz der verschiedenen Klassen
allerdings nicht, aber Ausnahmen bestätigen die Regel, und übrigens ist
die Rechtspflege auf den meisten Gebieten reichsgesetzlich geordnet und nur
ihre Ausübung und die Justizverwaltung ist den Einzelstaaten überlassen.
Dagegen handelt es sich im Reiche um nationale und wirtschaftliche An-
gelegenheiten, bei denen die Interessendifferenz der einzelnen sozialen Schichten