422 V. Reichstag. Art. 22.
des Berichterstatters, nicht eine Würdigung der Verhandlungen unter
ethischen Gesichtspunkten; notwendig ist also die Abwesenheit jeder offenen
oder latenten — zwischen den Zeilen kundgegebenen — Kritik; vol.
Oppenhof § 12 A. 6. Das preuß. Obertribunal verlangte für die An-
wendung des Art. 79 der preuß. Verf. Urk. unter Hinweis auf die Verhand-
lungen des Abgeordnetenhauses von 1850 St. B. 1850/51 S. 1292 „ein-
fache" Berichte, nicht „Räsonnements über das Verhandelte“.
Die erschöpfende, wenn auch kursorische Behandlung des Stoffs er-
fordert, daß ein dem Leser die selbständige Kritik gestattender Üüberblick über
das Ganze gegeben wird. Es genügt also nicht ein Referat über Bruch-
stücke und nicht die Wiedergabe einzelner Reden; vgl. Zorn 1 S. 235. Deun
einzelne Reden, selbst wenn sie wortgetreu mitgeteilt sind, können kein
richtiges Bild liefern, weil sie aus dem Zusammenhang gerissen find; vyl.
Oppenhof Rechtsprechung des Reichsgerichts Bd. 6 S. 177; Bd. 7 S. 171,
236; Bd. 16 S. 147; Bd. 17 S. 469; ferner v. Seydel S. 201, Arndt S. 138.
Dagegen wird, wie das preuß. Obertribunal Bd. 6 S. 273 entschieden hat,
der Charakter des Berichts nicht dadurch ausgeschlossen, daß in einer
Zeitung die begonnene Mitteilung abgebrochen und die Fortsetzung erst in
einer folgenden Nummer geliefert wird, wenn dies nur aus Rücksicht auf die
Zeit des Erscheinens der Nummer oder deshalb geschah, weil dort für die voll.
ständige Mitteilung kein genügender Raum sich fand; vgl. Oppenhof §12 Nr. 6.
Schon bei der Annahme der Bestimmung ist im Reichstag die un-
parteiische Wiedergabe auch der Außerungen der Gegenpartei zur Abwehr
der Gefahren der Unverantwortlichkeit der Berichterstattung als notwendig
bezeichnet worden, St. B. 1870 S. 1147; gegenüber der geäußerten Be-
fürchtung, daß hochverräterische Reden durch die Berichterstattung in weitere
Kreise getragen werden könnten, hob der Abg. Lasker hervor, der die Be-
stimmung beantragt hatte, „daß in der gesamten Debatte das Korrektiv gegen
einzelne Ausschreitungen stets zu finden sein müsse".
II. Wahrheitsgetreue Berichte.
Nur wörtliche Berichte ohne Abänderungen, ohne Zusätze und ohne
Auslassungen haben unbedingten Anspruch darauf, als wahrheitstreu an-
erkannt zu werden; in jeder Abänderung, Auslassung und in jedem Zusatz kann
eine tendenziöse Entstellung liegen. Das Reichsgericht hat in einer Entsch. v.
5. Nov. 1886 II Straff. Bd. 15 S. 33 einem Bericht den Charakter der Wahr-
heitstreue abgesprochen, weil die mitgeteilte Rede durch Bemerkungen, die
ihr beigefügt waren, zum Gegenstande einer Besprechung gemacht worden
war. Eine Auslassung, die nur dem Zweck der Abkürzung dient, wird
nicht zu beanstanden sein, wohl aber Striche, mit denen der Zweck verfolgt
wird, gewisse Äußerungen zu unterdrücken. Ein Referat z. B., das die
Außerungen der einen Partei ausführlich, die der anderen stark gekürzt
wiedergibt, das also den Zweck der Abkürzung des stenographischen Berichts
nicht einheitlich verfolgt, entbehrt der Objektivität und genießt den Schutz
des Art. 22 nicht unbedingt. Es ist zwar keineswegs notwendig, daß der
Bericht wortgetreu ist — dies verhindert schon der Umfang der Verhand-
lungen —, aber die Kürzungen müssen nach gleichem Maßstab vorgenommen
werden; sie brauchen nicht schematisch gleich zu sein und können der Verschieden=