Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

V. Reichstag. Art. 23. 429 
in das Gebiet der üblichen Courtoifie, daß die Beschlüsse des Bundesrats, 
nachdem fie gefaßt sind, dem Reichstag so rasch als möglich mitgeteilt 
werden, aber für die Beschlußfassung selbst ist eine bestimmte Frist nicht 
nur nicht vorgeschrieben, sondern auch nicht einmal üblich geworden. Die 
Beobachtung einer bestimmten Frist wäre unmöglich, weil die aus den 
Initiativanträgen des Reichstags an den Bundesrat herantretenden Fragen 
von verschiedenartiger Bedeutung sind, teils längere, teils kürzere Überlegung 
und Vorarbeiten fordern und mehr oder weniger in Verbindung mit anderen 
Fragen stehen, über die teils bereis eine Entscheidung getroffen ist, teils erst 
getroffen werden soll. Daraus ergibt sich für die einzelnen Anträge ein ganz 
verschiedenes Zeitmaß der Erledigung; vgl. die Erklärung des Staatssekretärs 
des Innern Graf Posadowsky-Wehner in der Reichstagssitzung v. 2 Mai 1902 
St. B. 5248 D Eine andere Auffassung würde dem Grundsatz der Gleich- 
berechtigung von Bundesrat und Reichstag widersprechen; vgl. Art. 5 A3 
S. 172 ff. Übrigens sind eine erhebliche Zahl der von den Verbündeten 
Regierungen vorgelegten Gesetzentwürfe vom Reichstag einer Kommission 
überwiesen worden, von der die Vorlagen nie erledigt wurden, und, wie 
anzunehmen ist, bestand in nicht wenigen von diesen Fällen schon von Anfang 
an die Absicht, daß die Kommission einen Beschluß niemals fassen sollte. 
Die Verbündeten Regierungen haben also in diesen Fällen eine Antwort auf 
ihre Vorlagen überhaupt nicht erhalten; vgl. St. B. a. a. O. S. 5249 A. 
Der Bundesrat ist nicht verpflichtet, sich bei der Verhandlung über 
Initiativanträge des Reichstags vertreten zu lassen. Eine staatsrechtliche 
Pflicht im Reichstag zu erscheinen besteht mangels einer positiven gesetzlichen 
Vorschrift für die Mitglieder des Bundesrats überhaupt nicht. Dagegen 
wird in Ansehung der von den Verbündeten Regierungen selbst eingebrachten 
Vorlagen eine politische Verpflichtung des Reichskanzlers oder seiner Stell- 
vertreter für die Verteidigung der Vorlagen des Bundesrats zu sorgen nicht 
abzulehnen sein; vgl. Art. 9 S. 258 ff. Fürst Bismarck soll, wie der Staats- 
sekretär des Innern Graf Posadowsky-Wehner in der Reichstagssitzung v. 
7. Febr. 1906 St. B. 10890D erklärt hat, den Grundsatz aufsgestellt haben, 
daß die Verbündeten Regierungen sich bei Initiativanträgen nur vertreten 
lassen sollen, wenn es im Interesse der Regierungen liegt. Es dürfte dabei 
noch eine andere Außerung als die bei Art. 9 S. 259 angeführte Reichstags- 
rede v. 29. März 1867 gemeint sein. Denn aus diesen Ausführungen 
könnte sich die Stellung des Fürsten Bismarck zu Initiativanträgen nur 
indirekt ergeben. Die gleiche Erklärung hat der Reichskanzler Fürst Bülow 
in der Reichstagssitzung v. 22. Jan. 1902 St. B. 3561B, 3572 A abgegeben 
und dabei insbesondere darauf hingewiesen, daß die Anwesenheit von 
Regierungskommissaren in der Regel zwecklos sei, weil sie mit Rücksicht 
darauf, daß der Bundesrat noch keine Stellung genommen habe, auch ihrer- 
seits keine Erklärung abgeben könnten. 
B. Die Genehmigung von Vorlagen der Verbündeten Regierungen. 
Art. 23 enthält kein vollständiges Verzeichnis der Rechte des Reichs- 
tags, auch nicht in Verbindung mit Art. 5, wenn Art. 23 als Ergänzung 
zu Art. 5 aufgefaßt wird. Die Mitwirkung des Reichstags an der Aus- 
bildung des Rechts erschöpft sich nicht in der Teilnahme an der Gesetz-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.