434 V. Reichstag. Art. 23.
Sache der Regierungsorgane ist es, — unbeschadet der möglichen Rücksicht
auf die Ansicht des Reichstags — nicht jedem Druck der öffentlichen
Meinung nachzugeben, und gegenüber der sachlichen ÜUberlegung der für
ihre Entscheidung verantwortlichen Verwaltungsbehörden kann keine noch
so große Autorität eines anderen, an dieser Entscheidung mit eigener Ver-
antwortung nicht beteiligten Faktors ins Gewicht fallen.
Die Verhandlung über die Petitionen ist eines der Mittel, die dem
Reichstag zu Gebote stehen, um Anregungen aus dem Publikum zu erhalten,
und zwar eine Anregung, aus der sich, wenn der Reichstag die Petition
für begründet anfieht, von selbst ein Element der Kritik und ein öffent-
liches, den Regierungsorganen unmittelbar zugängliches Urteil ergibt. Hierin
liegt nicht eigentlich der Zweck des Art. 23 mit seiner Vorschrift über die
Überweisung der Petitionen, aber eine unabweisbare Nebenwirkung, und
den Ausführungen Labands I S. 282 ist darin zuzustimmen, daß durch
Art. 23 die Kritik, die mit der Verhandlung über Petitionen verbunden ist,
eine konstitutionelle Berechtigung erhält. Die tatsächliche Bedeutung dieser
Kritik erschöpft sich aber in der Autorität, über die der Reichstag verfügt
und in dem Engagement der öffentlichen Meinung, das mit der vom Reichs-
tag geübten Kritik verbunden ist. Wenn die Regierungsorgane des Reichs
sich stark genug fühlen, um unter Berufung auf ihre Verantwortlichkeit, die
nicht von der Autorität des Reichstags und nicht von der Macht der
öffentlichen Meinung abgeleitet ist, beiden Momenten Widerstand zu leisten,
so hat die Kritik des Reichstags keinen anderen als den immer noch sehr
großen Wert, ein instruktives Element für die Regierungsorgane zu bieten.
Dagegen geht es zu weit, wenn Laband! S. 283 dem Reichstag in An-
sehung seines aus der Bearbeitung der Petitionen sich ergebenden Rechtes
zur Kritik „gewissermaßen die Stellung eines öffentlich rechtlichen Rüge-
gerichts gegenüber den Verwaltungsbehörden“ zuschreibt. Ein Gericht wird
dadurch gekennzeichnet, daß seine Entscheidungen verpflichtend sind, und
gerade dies fehlt dem Reichstage, wie Laband selbstverständlich auch an-
erkennt. Deshalb kann die Richtigkeit des Bildes nicht zugegeben werden.
Es sind zeitweise, wenn auch nicht der Reichstag in seiner Mehrheit, so
doch einzelne Abgeordnete oder Fraktionen geneigt gewesen, das Recht der
Kritik etwas weit aufzufassen, sodaß die Kritik in ideale Konkurrenz mit
der dem Reichstag unzweifelhaft nicht zustehenden Befugnis kam, von den
Regierungsorganen bestimmte Maßregeln der Exekutive — Handlungen oder
Unterlassungen — zu verlangen. Von den Bertretern der Verbündeten
Regierungen ist ein solches Verlangen stets — ohne Rücksicht auf seine
materielle Begründung — als Kompetenzüberschreitung abgelehnt worden;
vgl. das Schreiben des Fürsten Bismarck an den Präsidenten des Reichs-
tags v. 2. Mai 1883 St. B. 2257.
D. Interpellationen.
I. Ihre politische Bedeutung.
Unter Interpellationen versteht man förmliche Anfragen, die in der
Volksvertretung von einem oder mehreren Abgeordneten an die Vertreter der
Regierung gerichtet werden, um Auskunft über Regierungsmaßregeln zu
erhalten, auf die sich die politische Verantwortlichkeit der interpellierten.