V. Reichstag. Art. 23. 437
III. Die sachlichen Grenzen des Interpellationsrechts.
Der Ansicht Zorns 1 S. 240 f., daß die Zuständigkeit des Reichstags
für Interpellationen sich über jede Sphäre des öffentlichen Lebens im Reiche
erstreckt, würde zuzustimmen sein, wenn der Reichstag das einzige Parlament
innerhalb des Reichs wäre. Da aber die Einzelstaaten auch ihre Volks-
vertretung haben, so erfordert es nicht nur die Okonomie der Geschäfts-
verteilung, sondern auch die Rücksicht auf die Stellung der Parlamente der
Einzelstaaten, daß die verfasfungsmäßigen Grenzen zwischen der Zuständigkeit
des Reichs und der der Einzelstaaten auch auf dem Gebiet der Inter-
pellationen festgehalten werden, da sonst Konflikte zwischen dem Reichstag
und den Volksvertretungen der Einzelstaaten kaum zu vermeiden wären,
zumal diese Parlamente auf anderen Wahlsystemen beruhen, und deshalb
für viele Fragen, die Gegenstand der Interpellation sein können, die politischen
Auffassungen grundsätzlich verschieden find. Es muß also vermieden werden,
daß der Reichstag und die einzelstaatlichen Landtage ein und dieselbe Frage
vor das Forum ihrer Interpellation ziehen können. Unter diesem Gesichts-
punkt kann die Zuständigkeit des Reichstags nicht anerkannt werden für
Fragen darüber, ob Reichsgesetze, deren Ausführung den Einzelstaaten obliegt,
im konkreten Falle gehörig ausgeführt werden, weil dafür, daß die Behörden
der Einzelstaaten ihre Pflicht tun und daß in den Einzelstaaten die erforder-
lichen Ausführungsvorschriften erlassen werden, die Regierungen der Einzel-
staaten ihren Landtagen verantwortlich find. Anders läge der Fall, wenn
der Fehler in dem Reichsgesetze selbst oder in Ausführungsvorschriften, die
vom Reich erlassen sind, gefunden würde. Dann handelt es sich um eine
reine Reichsangelegenheit und die Zuständigkeit des Reichtstags ist nicht
zu bezweifeln. Die Kompetenz des Reichs, die durch das dem Kaiser gemäß
Art. 17 zustehende Aufsichtsrecht über die Ausführung der Reichsgesetze in
den Einzelstaaten begründet wird, kann wegen der konkurrierenden Kompetenz
der Landtage nicht schlechthin auf das Gebiet übertragen werden, auf dem der
Reichstag die Fähigkeit hat, Interpellationen an die Reichsverwaltung zu
richten. Es ist z. B. unter Verneinung der Zuständigkeit des Reichstags die
Beantwortung von Interpellationen abgelehnt worden, die darauf gestützt
wurden, daß die preußische Regierung in Landesteilen, in denen ein Teil der
Bevölkerung die polnische Sprache gebraucht, die Reichsgesetze zu Ungunsten
dieser Bevölkerung ausführe, da die letztere bei Anwendung der Reichsgesetze
grundsätzlich differentiell behandelt werde; vgl. Erklärung des Reichskanzlers
Fürst Bülow in der Reichstagssitzung v. 7. Juni 1902 St.B. 54750D.
Eine Begrenzung unter anderem Gesichtspunkte ergibt sich für das
dem Reichstag zu Interpellationen freistehende Gebiet aus der ausschließ-
lichen Prärogative des Kaisers für gewisse Materien und aus der Un-
abhängigkeit der Gerichte. Interpellationen z. B. wegen Anordnungen, die
in Militärangelegenheiten auf Grund der kaiserlichen Kommandogewalt
gegeben sind, sowie wegen Begnadigungen, mögen sie auch vom Kaiser in
seiner Eigenschaft als solcher, nicht als König von Preußen erlassen sein,
find unzulässig, weil sich die Verantwortlichkeit der Regierungsorgane nicht
hierauf erstreckt und es außer ihrer Macht steht, diese Anordnungen irgend-
wie zu beeinflussen. Dasselbe gilt von Angelegenheiten, die zur Zuständig-
keit der ordentlichen Gerichte gehören, ohne Rücksicht darauf, ob fie noch