II. Reichsgesetzgebung. Art. 2. 37
I. Die Befugnis des Reichs zur Gesetzgebung.
1. Zum Begriff der Reichsgesetzgebung.
Das Reich ist ein Bundesstaat und hat als Staat das Recht, den
Staatsangehörigen und anderen Personen, die sich im Staatsgebiet aufhalten,
unter Umständen auch einem noch weiteren Personenkreis (vgl. z. B. 8 4
des Strafgesetzbuchs, Konsularrecht und Konsulargerichtsbarkeit, Schutzgebiets-
recht) zu befehlen und zu verbieten und durch Gebote und Verbote die
Beziehungen dieser Personen zueinander und zu dem Staatsganzen zu
regeln, um die Interessen sowohl der Untertanen wie des Staats und der
neben dem Staat rechtlich zugelassenen Personengemeinschaften (öffentlichen
Verbände) zu schützen. Die Gebote und Verbote, die das Reich zur
Wahrung der Reichsinteressen und der Interessen der einzelnen Reichs-
angehörigen sowie der durch das geltende Recht anerkannten Personen-
gemeinschaften in der die Untertanen des Reichs verpflichtenden Form
erläßt, bilden, soweit sie allgemeiner und abstrakter Natur sind, zusammen
das Reichsrecht.
Dieser Begriff deckt sich mit dem, der in der Wissenschaft (vgl. ins-
besondere Laband II S. 1 ff. und die bei Meyer § 155 A. 3 S. 550 an-
geführte Literatur) als Gesetz im materiellen Sinne bezeichnet wird, während
unter Gesetz im formellen Sinne man jede Anordnung versteht, die in den
durch die Verfassung für Gesetze vorgeschriebenen Formen ergeht. Der
Begriff des materiellen Gesetzes umfaßt also auch die Verordnungen, der
Begriff des formellen Gesetzes schließt die Verordnungen aus, umfaßt aber
Anordnungen, die wie das Etatsgesetz nicht oder nicht notwendig Rechts-
sätze enthalten. Die Stellung der Reichsverfassung zu dieser Unterscheidung
ist nicht klar. Im Hinblick darauf, daß Art. 5 die einzige Vorschrift der
Reichsverfassung ist, die nach der Wortfassung als eine Bestimmung des
Begriffs angesehen werden kann, den die Reichsverfassung mit dem Wort
„Gesetz“ verbindet, wird in zweifelhaften Fällen davon auszugehen sein,
daß unter Gesetz die Verfassung eine gemäß Art. 5 zustande gekommene
Vorschrift versteht. Es läßt sich wohl der Standpunkt rechtfertigen, daß
nur dort, wo die Reichsverfassung die Verteilung der Kompetenz zwischen
dem Reich und den Einzelstaaten zum Gegenstande hat, sie das Wort
„Gesetz“ im materiellen Sinne anwendet.
2. Der Träger der Reichsgesetzgebung.
Nach Art. 2 ist es das Reich, dem das Recht der Gesetzgebung in
den durch die Reichsverfassung gezogenen Grenzen zugesprochen ist. Soweit
hierin eine Kompetenzabgrenzung zwischen Reich und Einzelstaaten liegt,
ist das Wort „Gesetz“ im materiellen Sinne zu verstehen. v. Seydel, der
die Ansicht vertritt, daß das Reich ein Staatenbund sei, bestreitet in
Konsequenz dieser Auffassung, daß dem Reich durch die Verfassung die
gesetzgebende Gewalt übertragen sei (S. 41). Er hat daraus, daß im Art. 2
von einer „Ausübung“ des Rechts der Gesetzgebung gesprochen wird, den
Schluß gezogen, daß das Reich nicht im Besitze der Gesetzgebungshoheit
sei, sondern nur innerhalb jedes Staates das Landesgesetzgebungsrecht aus-
übe. Diese Ansicht ist sonst fast überall abgelehnt worden, und mit Recht.