Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

442 V. Reichstag. Art. 24. 
ist nämlich von Anfang an, d. h. seit 1850, namentlich auch durch den 
(jietzt aufgehobenen) Art. 66 der preuß. Verf Urk. die dem Art. 24 R.V. 
entsprechende Bestimmung des Art. 73 dahin ausgelegt worden, daß der 
Tag des ersten Zusammentritts der Kammer maßgebend sei; vgl. Metzel, 
Handbuch für das preuß. Herrenhaus Anm. zu Art. 73, auch bei v. Rönne 1 
S. 252 A. 1 angeführt. Diese Praxis fand eine ausdrückliche Bestätigung 
in dem am 5. Okt. 1873 an den König erstatteten Bericht des preuß. 
Staatsministeriums — Reichsanzeiger 1873 Nr. 239 — der sich ex prokesso 
mit der Frage beschäftigte und mit Bezug auf die am gleichen Tage an- 
geordnete Auflösung des Abgeordnetenhauses (Ges. S. S. 457) folgende Stelle 
enthielt: „Das gegenwärtige Haus der Abgeordneten ist am 14. Dez. 1870 
zum ersten Male zusammengetreten. Nach Art. 73 der Verf. Urk. v. 31. Jan. 
erlischt deshalb das Mandat desselben mit d. 14. Dez. 1873“. Mit Rück- 
sicht hierauf und auf den Umstand, daß damals wie später das Reich und 
Preußen denselben leitenden Staatsmann hatte, ist es schwer, an eine 
bewußte Verschiedenheit der Praxis zu glauben. 
Von den Anhängern des Standpunkts, daß der Wahltag maßgebend 
sei, wird besonderes Gewicht auf das Reichsgesetz v. 21. Juli 1870 B.G. Bl. 
S. 498 gelegt, dessen einzgiger Artikel lautet: „Die Legislaturperiode des am 
31. Aug. 1867 gewählten Reichstags wird für die Dauer des gegenwärtigen 
Krieges mit Frankreich, jedoch nicht über die Dauer des gegenwärtigen 
Krieges hinaus, verlängert". Man braucht der Fassung dieses Gesetzes 
nicht mehr Bedeutung beizulegen als den Motiven des Wahlgesetzes und 
kann sie aus den gleichen Gründen und Umständen erklärlich finden. Es 
ist nicht richtig, daß hier eine gesetzliche Festlegung und Anerkennung des 
Standpunktes zu finden ist, daß der Wahltag für den Beginn der Legis- 
laturperiode maßgebend sei. Denn in dem bestimmenden Teile des Gesetzes 
ist hierüber nichts enthalten Die Anführung des Wahltages spielt in 
Ansehung der Bestimmung, die das Gesetz gibt, keine andere Rolle, als 
daß sie zur Bezeichnung der Identität des Reichstags dient, für den die 
Verlängerung der Legislaturperiode angeordnet wird. Es ist nicht zu bestreiten, 
daß dem Verfasser des Gesetzentwurfs vorgeschwebt hat, sein Motiv für die 
Berechnung der Legislaturperiode im Gesetz zum Ausdruck zu bringen, aber 
da dies nicht in bestimmender Form geschehen ist, so hat die Hervorhebung 
des Wahltags in dem Gesetz keine andere Bedeutung, als Rechtsausführungen. 
und Ansichten, die in den Gründen eines gerichtlichen Urteils, aber nicht 
im Urteilstenor wiedergegeben sind. übrigens lag auch von dem gegen- 
teiligen Standpunkt aus eine sachliche Notwendigkeit für das Gesetz vor, 
weil ohne dieses Gesetz die Legislaturperiode, wenn auch nicht am 31. Aug. 
1870, so doch am 10. Sept. 1870 hätte aufhören müssen, da der damalige 
Reichstag am 10. Sep. 1867 einberufen worden war. Mindestens von der 
preußischen Regierung und dem ersten Reichskanzler kann in dem Gesetz die 
reichsgesetzliche Emanation eines Prinzips über die Festlegung der Legis= 
laturperiode nicht gefunden worden sein, da sonst unmöglich vom Staaots- 
ministerium der in dem Bericht von 1873 kundgegebene Standpunkt hätte 
eingenommen werden können. 
Gegen die Ausführungen von Müller-Meiningen in Hirth's Annalen 
1902 S. 726 ist festzustellen, daß es für die Praxis des Reichs nicht viel. 
beweist, wenn die Neuwahlen des Reichs bisher im allgemeinen ungefähr
	        
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