Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

V. Reichstag. Art. 24. 443 
an demjenigen Kalendertage stattgefunden haben, der durch seine Benennung 
und Zahl dem Kalendertage entsprach, an dem die letztvorausgegangenen 
Wahlen vorgenommen wurden. Denn die Berechnung der Periode nach 
dem Tage der Eröffnung führt, wie Herrfurth a. a. O. S. 1 mit Recht 
ausführt, für das Reich zu der auch aus praktischen Gründen befriedigenden 
Konsequenz, daß die Neuwahlen schon vor dem Ablauf der Legislaturperiode 
stattfinden können, weil die Reichsverfafsung eine dem Art. 75 der preuß. 
Verf. Urk. entsprechende Bestimmung nicht enthält. Aus dem Zeitpunkt des 
Wahltages, wenn er vor den nach dem Tage der Eröffnung des Reichs- 
tags berechneten Ablauf der Periode fällt, würde deshalb ein Schluß auf 
die Praxis des Reichs nicht gezogen werden können. Ubrigens wurden, 
wie Müller-Meiningen auch anführt, i. J. 1881 die Neuwahlen am 
27. Okt. vorgenommen, während die letzten Neuwahlen am 30. Juli 1878 
stattgefunden hatten. Andererseits kann im Sinne des entgegengesetzten 
Standpunktes kein besonderes Gewicht auf die von Arndt, Hirth's Annalen 
1903 S. 721 ff., in diesem Zusammenhange angeführten Bestimmungen der 
§8§ 1, 9 der G.O. des Reichstags gelegt werden. Wenn dort gesagt ist, 
daß beim Eintritt einer neuen Legislaturperiode das Haus unter dem 
Vorsitz seines ältesten Mitgliedes zusammentritt, so ist damit noch nicht 
der umgekehrte Satz ausgesprochen, daß, wenn das Haus zusammentritt 
bez. der Präsident gewählt wird (§9), gleichzeitig eine neue Legislatur- 
periode beginnt. Ebenso ist auf den von Arndt a. a. O. S. 736 ange- 
führten Passus der Thronrede, die bei Eröffnung des Reichstags v. 6. Dez. 
1898 gehalten wurde, kein allzu großes Gewicht zu legen. Dort ist der 
Tätigkeit des Reichstags in der „bevorstehenden“ Legislaturperiode gedacht. 
Aber da der Streitfrage über den Beginn der Legislaturperiode erst aus 
Anlaß der Verhandlungen über den Zolltarif i. J. 1902 größeres Inter- 
esse geschenkt worden ist, so ist es nicht wahrscheinlich, daß man seitens 
der Reichsverwaltung i. J. 1898 an diese Streitfrage überhaupt gedacht 
hat, und noch unwahrscheinlicher ist es, daß zu einer derartigen, über- 
wiegend auf dem Gebiete der juristischen Technik liegenden, und überdies 
recht zweifelhaften Frage gerade in der Thronrede Stellung genommen 
werden sollte. Unter ähnlichem Gesichtspunkt kann aber auch nicht aus 
der Thronrede v. 3. Dez. 1903 für den entgegengesetzten Standpunkt ein 
Schluß gezogen werden. Dort heißt im Auftrage des Kaisers der Reichs- 
kanzler den Reichstag „am Beginn der ersten Tagung der neuen Legis- 
laturperiode“ willkommen. Hier ist der damals auch schon in der Presse 
viel erörterten Streitfrage dadurch Rechnung getragen, daß — wahrschein- 
lich mit Absicht — eine indifferente, ausweichende Wendung gewählt wurde, 
damit nicht die Thronrede für den einen oder anderen Standpunkt fest- 
gelegt werden könnte; anderer Ansicht: Perels a. a. O. S. 20. Aus dem- 
selben Grunde ist das von Perels S. 19 angeführte Schreiben des Stell- 
vertreters des Reichskanzlers nicht beweiskräftig. Dieses Schreiben erging 
unter d. 21. März 1903 an sämtliche Bundesregierungen und begann wie 
folgt: „Die Wahlperiode des gegenwärtigen Reichstags läuft mit dem 
16. Juni ab. Es ist daher geboten, ohne jeden Verzug alle erforderlichen 
Vorbereitungen für die Neuwahlen .... zu treffen“ (Norddeutsche All. 
gemeine Zeitung v. 4. April 1908 Nr. 80 Hauptblatt). Es entspricht nicht 
der Praxis der verantwortlichen Regierungsorgane zu juristischen Streit-
	        
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