446 V. Reichstag. Art. 24.
auf die Vermutung gestützt werden könnte, daß das gewählte Parlament in
der oder jener Frage die Regierung nicht unterstützt haben würde. Eine
indirekte Bestätigung dafür, daß eine Auflösung vor der ersten Einberufung
des Reichstags nicht im Sinne der Reichsverfassung liegt, ergibt sich aus
Art. 25. Diese Bestimmung wird allgemein dahin ausgelegt, daß sie eine
nochmalige Auflösung des nach der Auflösung neu gewählten Reichstags
erst nach dem Zusammentritt des Reichstags gestattet; so u. a. Laband I
S. 319 A. 1, v. Seydel S. 206, Arndt S. 136, Perels a. a. O. S. 31.
Von dem Standpunkt derer, welche die Legislaturperiode von dem Wahl-
tage ab berechnen und demzufolge annehmen, daß die Auflösung noch vor
der erstmaligen Eröffnung des Reichstags zulässig sei, wäre diese Bestimmung
eine grundlose Anomalie, weil, wenn es zulässig wäre, daß die Regierung
einen nach dem normalen Ablauf der Legislaturperiode neugewählten Reichstag
auflöst, ehe sie ihm Gelegenheit gegeben hat irgend welche Beschlüsse zu
fassen, es mehr gerechtfertigt wäre der Regierung dieses Recht für den nahe
liegenden Fall zuzusprechen, daß nach einer Auflösung die Neuwahlen die-
selbe oder eine ähnliche Zusammensetzung des Reichstags ergeben. Von
dem hier vertretenen Standpunkt, daß die Legislaturperiode mit der erst-
maligen Versammlung des Reichstags beginnt und deshalb die Auflösung
vor der erstmaligen Versammlung des Reichstags durch die Verfassung selbst
ausgeschlossen ist, wird diese Anomalie vermieden und Art. 25 enthält nur
die Bestätigung eines allgemeinen Prinzips. Dabei ist zu berücksichtigen,
daß die Beschränkung der Auflösung aus Art. 25 nur indirekt geschlossen
werden kann; die Tendenz des Art. 25 geht nicht dahin, eine solche Be-
schränkung der Auflösungsmöglichkeit zum Ausdruck zu bringen, sondern den
Fortbestand der Volksvertretung dadurch zu sichern, daß die Erneuerung des
Parlaments an eng bemessene Fristen gebunden ist.
Allgemein anerkannt ist, daß mit der Auflösung eine neue Legislatur-
periode beginnt.
Über die Gründe der Auflösung bestimmt die Verfassung nichts. Die
Verbündeten Regierungen sind daher nicht gehindert, den Reichstag aus
jedem beliebigen Grunde aufzulösen; sie brauchen den Grund nicht einmal
bekannt werden zu lassen und können die Auflösung beliebig oft wieder-
holen. Die Kompensation für diesen Mangel an irgend einer Beschränkung
liegt darin, daß die Wiederwahl derselben Abgeordneten, die dem aufgelösten
Reichstag angehört haben, nicht verboten ist und daß die Verbündeten
Regierungen durch die Verfassung selbst auf ein Zusammenwirken mit dem
Reichstag angewiesen sind, weil sie ohne den Reichstag kein neues Gesetz und
insbesondere nicht das Etatsgesetz zustande bringen können. Diese ver-
fassungsmäßige Ordnung der Dinge weist auf die Notwendigkeit von Kom-
promissen bei Meinungsverschiedenheiten hin und läßt die Auflösung nur
als einen Ausweg für die äußersten Fälle erscheinen. Tatsächlich wird auch
die Auflösung nur angewendet, wenn für Gesetzesvorlagen von großer politischer
— sei es nationaler oder wirtschaftlicher — Bedeutung eine Übereinstimmung
mit der Mehrheit des Reichs nichts zu erzielen ist. Welchen Vorlagen eine
derartige Bedeutung innewohnt und welche im Gegensatz nicht wichtig genug
sind, um dem Lande den mit einer Neuwahl verbundenen Aufwand von Zeit
und Kraft aufzuerlegen und die ebenfalls damit verbundene Gefahr einer Ver-
tiefung der Verstimmung zwischen Regierung und Volksvertretung zu über-