38 II. Reichsgesetzgebung. Art. 2.
Das Wort „übt aus“ soll keineswegs dartun, daß dem Reiche das Recht
der Gesetzgebung nicht zusteht und von ihm nur in Stellvertretung aus-
geübt wird, sondern „ausüben“ hat hier die Bedeutung „Gebrauch machen“,
wie einmal durch die sprachliche Bedeutung des Wortes „ausüben“ nicht
ausgeschlossen wird und sich pofitiv aus der überschrift des III. Abschnittes
der Reichsverfassung, der „Reichsgesetzgebung“, d. h. Gesetzgebung des
Reichs überschrieben ist, in Verbindung mit der Tatsache ergibt, daß die
Gesetzgebung des Reichs nach Art. 5 durch die eigenen Organe des Reichs,
den Bundesrat und Reichstag, ausgeübt wird, so daß die Einzelstaaten an
den Akten der Reichsgesetzgebung nur durch ihre Vertretung im Bundesrat
beteiligt sind. Auch die Worte des Art. 5 „Die Reichsgesetzgebung wird
ausgeübt durch den Bundesrat und Reichstag“ bedeuten soviel als: die
Reichsgesetzgebung wird geschaffen, ins Werk gesetzt durch den Bundesrat
und Reichstag. In beiden Fällen bezeichnet das Wort „ausüben“ nichts
anderes, als daß der abstrakte, im Reiche der Ideen liegende Begriff des
Rechts zur Gesetzgebung durch die „Ausübung" in die Welt der Tatsachen
übergeführt wird, und mit Recht kann deshalb gerade daraus, daß das Reich
das Recht der Gesetzgebung selbst ausübt, und zwar durch seine eigenen
Organe, und daß die Reichsgesetze ihre verbindliche Kraft durch ihre Ver-
kündigung von Reichs wegen erhalten, der Schluß gezogen werden, daß das
Reich ein selbständiges Staatswesen, kein Staatenbund ist. Die föderative
Grundlage dieses Staatswesens ist dadurch genügend gewahrt, daß die
Verbündeten Regierungen neben dem Reichstag der maßgebende Faktor der
Reichsgesetzgebung find.
3. Das „Recht“ zur Gesetzgebung.
Aus Art. 2 ergibt sich für das Reich nur das Recht und nicht die
Pflicht zur Gesetzgebung. Dabei ist in Betracht zu ziehen, daß abgesehen
von wenigen Gebieten, auf denen die Gesetzgebungsbefugnis des Reichs aus-
schließlicher Natur ist und abgesehen davon, daß der Reichsetat nur durch
ein Reichsgesetz festgestellt werden kann, der größte Teil des dem Reich
überwiesenen Gebietes der Gesetzgebung, insbesondere die im Art. 4 auf-
geführten Materien solche sind, die vor der Gründung des Reichs eine
landesgesetzliche Regelung erhalten haben und für die zum großen Teil
nicht bestimmt ist, daß das Reich die ausschließliche Gesetzgebungs-
befugnis für das betreffende Gebiet hat. Namentlich für die im Art. 4
aufgezählten Materien findet der nach dem Wortlaut des Art. 2 zweifels-
freie, aber im Reichstage von einzelnen Abgeordneten — aus politischen
Gesichtspunkten — oft bestrittene Satz Anwendung, daß die Gesetzgebung,
soweit sie dem Reich überhaupt eingeräumt ist, nur ein Recht des Reichs
darstellt, und es besteht für das Reich keine in der Verfassung begründete
Pflicht, von diesem Recht zur Gesetzgebung Gebrauch zu machen. In
dieser Beziehung ist vielmehr der Reichspolitik freier Spielraum gelassen.
Der Satz, daß es sich bei der Gesetzgebung nur um ein Recht und
nicht um eine Pflicht des Reichs handelt, gilt allgemein für jede in der
Reichsverfassung vorgesehene Materie der Gesetzgebung. Aber natürlich ist
die tatsächliche Bedeutung dieses Satzes für das Gebiet aufgehoben, auf dem
das Reich das Recht zur ausschließlichen Gesetzgebung hat, und für das
Etatsrecht. Denn in Ansehung der Materien, für welche die Einzelstaaten