Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

V. Reichstag. Art. 30. 437 
volle Kräfte durch eine zu starke Mannigfaltigkeit der politischen Ziele zu 
zersplittern. Aber in einem fortgeschrittenen Stadium dieses Entwicklungs- 
prozefses, z. B. wenn einzelne Abgeordnete einen sehr beherrschenden Einfluß 
auf die anderen Reichstagsmitglieder geltend machen, kann auch der mögliche 
und erreichbare Grad von Unabhängigkeit der Abgeordneten bedroht werden 
entgegen der Tendenz, welche die Bestimmung des Art. 29 verfolgt. 
Der Theorie nach ist dem Reichstage, indem jeder einzelne Abgeordnete 
zum Vertreter aller berechtigten Volksinteressen erklärt ist, bezüglich der 
Vertretung des Volkes genau dieselbe Stellung zugewiesen wie der Regierung 
— sowohl dem Kaiser als den Verbündeten Regierungen. Daraus zu folgern, 
daß zwischen Regierung und Parlament eine ideale Einigkeit bestehen müsse, 
weil fie dieselben Aufgaben hinsichtlich der Volksvertretung haben, wäre 
natürlich ein Trugschloß. Denn die Möglichkeit, daß selbst bei überein- 
stimmung der Ziele über die Mittel und Wege verschiedene Ansichten bestehen, 
bleibt stets offen. Besteht freilich nicht einmal Einigkeit über das Ziel 
und können die politischen Parteien in ihrer großen Mehrheit nicht darauf 
verzichten, die Interessen einzelner Berufsstände zu vertreten, so ergibt sich 
von selbst, daß ein beherrschender Einfluß einer einzelnen Partei bei der 
Staatsregierung nicht zufallen kann, weil einzelne politische Parteien nicht 
in der Lage sind, die Aufgabe einer Vertretung des ganzen Volkes zu lösen, 
eine Aufgabe, die der Regierung auch ohne eine ausdrückliche Verfassungs- 
bestimmung ohne weiteres zufällt. Die Situation kann sich dann nicht 
anders politisch gestalten, als daß die Wünsche der einzelnen sozialen Klassen 
und Berufsstände im Parlament durch die Fraktionen geltend gemacht 
werden und daß die Regierung, indem sie eine vermittelnde und ausgleichende 
Politik einschlägt, eine Aufgabe allein durchzuführen übernimmt, die eigent- 
lich neben ihr dem Reichstag zugedacht war, nämlich die Aufgabe, eine 
Vertretung aller berechtigten Volksinteressen zu bilden. 
Artikel 30. 
Kein Mitglied des Reichstages darf zu irgendeiner Zeit wegen seiner 
Abstimmung oder wegen der in Ausübung seines Berufes getanen Auße- 
rungen gerichtlich oder disziplinarisch verfolgt oder sonst außerhalb der 
Versammlung zur Verantwortung gezogen werden. 
I. Zur Entstehungsgeschichte des Art. 30. 
II. „Kein Mitglied des Reichstags“. 
III. „darf“. 
IV. „zu irgendeiner Zeit“. 
V. „wegen“. 
VI. „in Ausübung des Berufs“. 
VII. „Außerungen“. 
VIII. „gerichtlich verfolgt". 
X. „disziplinarisch verfolgt". 
X. Die sonstige Verantwortung. 
XI. Kein Zeugnisverweigerungsrecht. 
XII. Durchsuchung. 
XIII. Die Verantwortung der Abgeordneten.
	        
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