Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

640 XII. Reichsfinanzen. Art. 70. 
dadurch aufrecht erhalten, daß die Einnahmen aus den Zöllen und Steuern 
mit ihrem vollen Betrage im Etat nach wie vorher dem Reich als Ein- 
nahme gutgeschrieben, dafür aber unter dem Titel „Uberweisungen an die 
Bundesstaaten“ ein Ausgabeposten gebucht wurde, der die den Einzelstaaten 
überwiesenen Beträge enthielt, und die sich infolgedessen ergebende Differenz 
zwischen den Einnahmen und Ausgaben des Reichs wurde durch die Matri- 
kularbeiträge ausgeglichen. Das Ergebnis dieses Verfahrens war, daß das 
Reich selbst in den Jahren, in denen seine eigenen Einnahmen aus Zöllen 
und Steuern, zuzüglich der anderen Verwaltungseinnahmen, seinen Bedarf 
überstiegen, es also finanziell selbständig hätte sein können, doch darauf 
angewiesen war, Matrikularbeiträge in großem Umfange zu erheben, weil 
jährlich Hunderte von Millionen in der Form von Uberweisungen für die 
Einzelstaaten verausgabt werden mußten. Da mit dem i. J. 1879 ein- 
geführten Schutzzollsystem anfangs ein großer wirtschaftlicher Aufschwung 
verbunden war, so waren zuerst die Uberweisungen höher als die Matri- 
kularbeiträge und die Einzelstaaten haben infolge dieses Verfahrens durch 
eine Reihe von Jahren erhebliche überschüsse bezogen, während für das Reich 
zur Befriedigung seiner finanziellen Bedürfnisse auch in diesen Jahren be- 
deutende Anleihen ausgenommen wurden. Später mußten Matrikularbeiträge 
erhoben werden, die durch Uberweisungen nicht mehr gedeckt waren, und 
zwar geschah dies vom Jahre 1899 ab regelmäßig; bis zum Jahre 1904 
mit Einschluß der durch das Etatsgesetz für 1904 geforderten Beiträge 
bezifferte sich die Belastung der Einzelstaaten durch ungedeckte Matrikular- 
beiträge auf insgesamt 120 Millionen Mark; vgl. Begründung zum Ent- 
wurf der Lex Stengel von 1904, Anlagen der 11. Leg.-Per. Seff. 1 Bd. 1 
S. 45 Nr. 14. 
In den Jahren 1893/94 wurden dem Reichstag zweimal Gesetzentwürfe 
mit der Tendenz vorgelegt, die Schwankungen im Verhältnis der Matrikular- 
beiträge zu den Uberweisungen zu mäßigen und die Überschüsse zur Reichs- 
schulden-Tilgung zu verwenden; vgl. die Drucksachen von 18983/94 Nr. 51 und 
von 1894/95 Nr. 115. Beide Entwürfe wurden abgelehnt, der erstere ins- 
besondere, weil er im Hinblick auf die beabsichtigte Heeresverstärkung neue Ver- 
brauchssteuern vorsah und weil eine Vermehrung der indirekten Steuern damals 
sachlich und zeitlich dem Reichstag nicht opportun erschien. Durch Ges. v. 
16. April 1896 R. G. Bl. S. 103, das der Initiative des Reichstags entsprungen 
war, wurde in Verfolgung der Tendenz das Reich zu entlasten bestimmt, daß 
die Hälfte des Überschusses der überweisungsbeträge über die nach dem Etat 
aufzubringenden Matrikularbeiträge zur Verminderung der Reichsschuld 
zurückbehalten und der für die Reichskasse vor der Überweisung an die 
Bundesstaaten nach der Franckensteinschen Klausel zurückzubehaltende Betrag 
auf 143 Millionen Mark erhöht wurde. Für die folgenden Jahre wurde 
durch Gesetze v. 24. März 1897 R. G. Bl. S. 95, v. 31. März 1898 R.G. Bl. 
S. 138, v. 25. März 1899 R. G. Bl. S. 189 und v. 30. März 1900 R. G. Bl. 
S. 173 diese Summe und der Anteil des Reichs an dem Überschuß der 
überweisungen über die Matrikularbeiträge erhöht. Das letzte Gesetz kam 
ebenso wie die in den nächsten beiden Jahren — 1901 und 1902 — erlassenen 
gleichartigen Gesetze nicht mehr zur Ausführung, weil sich Überschüsse der Über- 
weisungen über die Matrikularbeiträge nicht mehr ergaben; vgl. Laband 1V 
S. 380 ff., Schwarz und Strutz III 88 125 ff. S. 119ff. Denn diese Gesetze,
	        
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