684 XIV. Allgemeine Bestimmungen. Art. 78.
IV. Die Sonderrechte.
a) Begriff der Sonderrechte.
In der staatsrechtlichen Literatur besteht Streit über den Begriff der
Sonderrechte, unter welcher Bezeichnung man die durch Art. 78 Abs. 2
geschützten Rechte der Einzelstaaten zusammenfaßt. Nach der einschränkenden
Auslegung, die u. a. von v. Rönne II 1 S. 44, Hänel Studien 1 S. 190 ff.
und Deutsches Staatsrecht I S. 815, v. Mohl Staatsrecht S. 63, 149,
Zorn 1 S. 127 ff. vertreten wird, fallen unter den Begriff des Sonderrechts
nur diejenigen Rechte, die auf Grund positiver Vorschriften der Reichs-
verfassung den Einzelstaaten ausdrücklich vorbehalten oder übertragen find.
Nach der weiteren Auslegung werden durch Art. 78 Abs. 2 alle Rechte
geschützt, die ein Einzelstaat vor den anderen dadurch voraus hat, daß in
seinen Beziehungen zum Reich die allgemeine Regel nicht auf ihn An-
wendung findet; diesen Standpunkt vertritt namentlich Laband 1 S. 106 ff.
und Delbrück Art. 40 S. 2, der dort erklärte, daß er in Beziehung auf
die Sonderrechte sich zu der von Laband vertretenen Ansicht bekenne, „einer
Ansicht, die er schon bei den Versailler Verhandlungen geltend gemacht
habe“. Eine mittlere Ansicht vertritt Arndt S. 198, der im allgemeinen
der weiteren Auslegung folgt, aber die Anwendbarkeit des Art. 78 Abfs. 2
für die spätere Reichsgesetzgebung ablehnt. Gegen diese letztere Ansicht vgl.
die Erklärung des sächsischen Staatsministers Frhr. v. Friesen in der
Sitzung der sächs. Kammer der Abgeordneten v. 23. Febr. 1872, Hirth's
Annalen 1872 S. 1616 f. und namentlich die Erklärung des Reichskanzlers
Fürst Hohenlohe in der Reichstagssitzung v. 4. März 1899 St. B. 1318,
der mit bezug auf das die Einrichtung eines besonderen Senats für das
bayrische Heer bei dem Reichsmilitärgericht zulassende Reichsgesetz v. 9. März
1899 R.G.Bl. S. 135 bemerkte, es bestehe unter den Verbündeten Regierungen.
volles Einverständnis, daß eine etwaige spätere Abänderung dieses Gesetzes
nicht ohne eine neue Vereinbarung mit Bayern erfolgen werde; vgl. ferner
die Erklärung des bayrischen Bundesratsbevollmächtigten Graf Lerchenfeld-
Köfering bei den Verhandlungen über das Branntweinsteuergesetz in der
Reichstagssitzung v. 14. Juni 1887 St. B. 960. Im übrigen ergibt die
Entstehungsgeschichte der Bestimmung (sie ist von v. Seydel S. 419 ff. näher
dargelegt) zwar kein ganz sicheres Material für die eine oder andere Ansicht,
aber die namentlich von dem bayrischen Staatsminister v. Lutz im Reichstag
(1871 St.B. 161) vertretene Ansicht, daß Art. 78 Abs. 2 eigentlich keine
neue positive Bestimmung enthalte, sondern nur eine selbstverständliche Kon-
sequenz des auch ohnedies geltenden Verfassungsrechts, weist darauf hin, —
dahingestellt, ob in der Tat diese Schlußfolgerung selbstverständlich wäre —
daß eine extensive Auslegung dieser aus den Verträgen mit den Süddeutschen
Staaten in die Verfassung übernommenen Bestimmung im Sinne der Ur-
heber der Bestimmung liegt, und die extenfive Interpretation führt zu der
von Laband und Delbrück vertretenen Ansicht, daß unter den Begriff der
durch Art. 78 Abs. 2 geschützten Sonderrechte alle Rechte fallen, durch die
den Einzelstaaten Rechte im Verhältnis zum Reich zugefichert find, die nicht
allen Einzelstaaten nach gleichen Grundsätzen zustehen, sondern die ein oder
mehrere Staaten vor den anderen voraushaben. Danach hat z. B. Preußen
das unentziehbare Recht auf das Präsidium. Hierin find alle Vorrechte