62 II. Reichsgesetzgebung. Art. 2.
Verkündigung garantiert, daß die Vorschrift ein gültiges Gesetz ist, d. h.
als solches gültig zustande gekommen ist, und diese Feststellung verbindet
die Untertanen, die dem Gesetz unterworfen sind, ebenso wie die Behörden,
die das Gesetz anzuwenden haben. Denn dem gehäörig verkündeten Reichs-
gesetz ist verbindliche Kraft schlechthin und ohne Einschränkung auf irgend-
welche Machtfaktoren, die doch alle der Reichsgewalt unterworfen find, zu-
gesprochen. Die verbindliche Kraft des Gesetzes und das richterliche
Prüfungsrecht sind unvereinbare Dinge. Mit Unrecht wird dies von Kahn
in Hirth's Annalen 1907 S. 481 f. und 597 f. bes. S. 489 bestritten,
wo übrigens die umfangreiche Literatur über diese Frage angeführt und
besprochen ist. Denn wenn der Richter das Prüfungsrecht hat, kann er nach
seinem Ermessen die Gültigkeit auch verneinen, und tut er dies, so würde
das Gesetz trotz der Verkündigung für ihn unverbindlich sein, und es wäre
eine Ausnahme von der absoluten — Ausnahmen schlechthin verbietenden —
Vorschrift des Art. 2 statuiert, daß Reichsgesetze ihre verbindliche Kraft
durch die Verkündigung erhalten. Kahn, der das Prüfungsrecht auch in
Ansehung der Gesetze bejaht, leitet diese Anficht aus der Lehre von der
Trennung der Gewalten ab (vgl. a. a. O. S. 601 ff.). Dagegen ist einzu-
wenden, daß die Lehre von der Trennung der Gewalten zwar wie allen
modernen Staatsverfassungen, so auch der Konstruktion der Reichsverfassung
zugrunde liegt, daß aber diese Lehre nicht schon dadurch als verletzt an-
gesehen werden kann, daß die Gerichte bei ihren Entscheidungen in dem
oder jenen Punkte an gewisse Voraussetzungen gebunden werden, da sich
dies vollständig doch nicht vermeiden läßt.
Andererseits ist die Bedeutung der Vorschrift des 2. Satzes des Art. 2
im Sinne der Einschränkung des Prüfungsrechts der Behörden nicht weiter
auszudehnen, als dem Wortlaut der Bestimmung entspricht. Die Bestim-
mung bezieht sich nicht auf die Verordnungen und nicht auf die Frage, wie
weit Landesgesetze neben dem Reichsrecht gültig sind. Betrachtet man da-
nach die einzelnen Fälle gesondert, in denen die Frage des Prüfungsrechtes
praktisch werden kann, so ergibt sich folgendes:
2. Der Gegenstand der Prüfung.
a) Die Zuständigkeit des Reichs zur Regelung der Materie.
Die Frage, ob bei dem Erlaß eines Reichsgesetzes die Bestimmungen
der Reichsverfassung über die Kompetenz des Reichs gegenüber den Einzel-
staaten innegehalten sind, ist durch den Wortlaut des 2. Satzes des Art. 2
gedeckt. Dem Kaiser liegt es ob, vor der Verkündigung neben den anderen
verfassungsmäßigen Voraussetzungen für das Zustandekommen des betreffenden
Reichsgesetzes auch die Frage zu prüfen, ob das Reich zuständig ist, die
Materie reichsgesetzlich zu regeln, und mit Recht ist Laband II S. 45 der
Ansicht, daß „wenn die Reichsverfassung den Kaiser mit dieser Funktion
betraut, es nicht jedem Richter und Verwaltungsbeamten zustehen kann, in
dem einzelnen von ihnen zu entscheidenden Falle den kaiserlichen Ausspruch
einer Überprüfung zu unterwerfen“. Darin würde in der Tat ein destruk-
tives Element liegen. Das Reichsgericht (1. Cs. Urt. v. 17. Febr. 1883
Bd. 9 S. 235 f.) hat ebenfalls ausgesprochen, daß die Frage, ob ein Gesetz
ohne Abänderung der Verfassung und ohne Anwendung der für diesen Fall
vorgeschriebenen Formen hätte erlassen werden dürfen, der Nachprüfung