64 II. Reichsgesetzgebung. Art. 2.
b) Die ordnungsmäßige Entstehung der Rechtsvorschriften.
Die Beobachtung der Bestimmungen der Geschäftsordnung des Bundes-
rats und Reichstags bei der Beratung und Beschlußfassung über die Gesetz-
entwürfe ist eine innere Angelegenheit dieser Körperschaften. Wie zu II,
S. 48 hervorgehoben ist, hat sogar die Reichsverwaltung aus diesem Grunde
es abgelehnt, Fehler, die sich auf die Wahrung der Geschäftsordnung be-
ziehen, bei der Frage der Verkündigung der Reichsgesetze zu beachten, noch
viel weniger ist dies Sache der Gerichte oder anderen Behörden. Dagegen
sind die Vorschriften der Reichsverfassung über das Verfahren bei der Ab-
stimmung im Bundesrat (Art. 7), das Widerspruchsrecht Preußens in
Militär-, Marine-, Zoll= und Steuerangelegenheiten (Art. 5 Abs. 2, Art. 37),
über das Widerspruchsrecht der Einzelstaaten in Ansehung ihrer Sonder-
rechte (Art. 78 Abs. 2), über die Offentlichkeit der Reichstagsverhandlungen
(Art. 22) und über die Beschlußfähigkeit des Reichstages (Art. 28) eben
deshalb, weil fsie in der Reichsverfassung stehen, nicht innere Angelegenheiten
des Bundesrates oder Reichstags. Jedoch ist es lediglich Sache des Kaisers,
unter Verantwortlichkeit des Reichskanzlers (Art. 17) die Beobachtung dieser
Verfassungsvorschriften vor der Verkündigung zu prüfen — ebenso u. a.
Laband II S. 42 f. und D.Jur.Zeit. 1903 S. 10. — Im übrigen gelten
hier die Ausführungen zu V a. Das praktische Bedürfnis nach Kontrolle
der Beobachtung dieser Formvorschriften wird durch die dem Kaiser ob-
liegende Prüfung befriedigt. Wird mit Rücksicht auf das Ergebnis der
Prüfung das betreffende Reichsgesetz als solches verkündet, so liegt darin
zugleich das Zeugnis, daß das Reichsgesetz nach den Vorschriften der Reichs-
verfassung zustande gekommen ist. Dasselbe gilt für die Frage, ob dem
Gesetz übereinstimmende Beschlüsse des Bundesrats und Reichstages zu-
grunde liegen. Die Behörden haben gar nicht die Mittel an der Hand,
dies auch nur mit einiger Sicherheit festzustellen. Dieselbe Ansicht ist ver-
treten in einem Erkenntnis des vormaligen Oberappellationsgerichtes zu
Lübeck v. 6. April 1869 (Seufferts Archiv Bd. 26 S. 162); wegen des
gegenteiligen Standpunkts vgl. Meyer S. 635. Gründe der Zweckmäßigkeit
sprechen für die hier vertretene Auffassung. Das öffentliche Interesse ist
allerdings stark dabei beteiligt, daß die formellen Vorschriften für das
Zustandekommen der Reichsgesetze nicht absichtlich verletzt werden oder ge-
wohnheitsmäßig ein laxes Verfahren Platz greift. Aber das öffentliche
Interesse wird durch den Kaiser unter Verantwortlichkeit des Reichskanzlers
am besten gewahrt, da die dem Kaiser obliegende Prüfung in jedem ein-
zelnen Falle und zwar sofort — noch vor der Verkündigung — vorzunehmen
ist und die Zentralstelle der Reichsverwaltung natürlich am meisten geeignet
ist, auf die strenge Beobachtung auch der formellen Vorschriften der Reichs-
verfassung hinzuwirken. Wenn aber das Reichsgericht oder ein anderes
Gericht bei einem langen Jahre hindurch in unbezweifelter Geltung gewesenen
Reichsgesetz plötzlich aus den gedruckten Parlamentsverhandlungen oder
anderen Quellen entnehmen sollte, daß bei der Beratung oder Beschluß-
fassung irgendein der Reichsverfassung widersprechendes Versehen vorgekommen
sei, so müßte nach der hier bekämpften Ansicht das Gericht die Rechts-
gültigkeit des Reichsgesetzes für den ihm vorliegenden Fall verneinen. Man
braucht sich nur vorzustellen, welche Verwirrung daraus für alle anderen