Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

70 II. Reichsgesetzgebung. Art. 3. 
II. Das Indigenat. 
1. Der Begriff des Indigenats. 
Das „Indigenat“ bedeutet den Komplex der Rechte und Pflichten, die 
fich aus der Staatszugehörigkeit ergeben. Zwar ist jedermann, der im 
Staate wohnt, auch der Gewalt dieses Staates unterworfen; habiter le 
territoire: c'est se soumettre à la souveraineté. (Rousseau.) Dieser Grund- 
satz gilt also auch für Ausländer, mögen sie sich dauernd oder zufällig und 
vorübergehend im Inlande aufhalten. Jedoch mit seinen eigenen Staats- 
angehörigen verbindet den Staat ein besonderes Treueverhältnis; vgl. 
Zorn ! S. 342. Die Staatsangehbrigen haben Rechte und Pflichten, die 
der Ausländer nicht hat. Die besonderen Pflichten sind insbesondere im 
Militärdienst und in der Verpflichtung zur Ubernahme von Ehrenämtern, 
also in einer unentgeltlichen, der Erfüllung von Staatsaufgaben gewidmeten 
Arbeitsleistung begründet. Die besonderen Rechte sind in Art. 3 als Kon- 
sequenzen des Indigenats einzeln anfgezählt. 
2. Staats= und Reichsindigenat. 
Da in Deutschland stets eine doppelte Staatsgewalt besteht, die des 
Reichs und die des Einzelstaates, dem der betreffende Untertan angehört, 
so kommen für jeden Deutschen zwei verschiedene Indigenate, das seines 
Heimatsstaates und das des Reichs, in Betracht. Für ihre beiderseitige 
Abgrenzung ergibt sich der richtige Gesichtspunkt nur aus der Abgrenzung 
der Kompetenz zwischen Reich und Einzelstaaten; vgl. Laband 1 S. 128 ff. 
Daß auf irgend einem Gebiet das Reich und der Einzelstaat gleichzeitig und 
in demselben Sinne die Staatsgewalt ausüben, ist begrifflich ausgeschlossen; 
es würde dem Begriff der Staatsgewalt widersprechen, die für eine und 
dieselbe Materie des staatlichen Lebens nur einem Staatswesen zustehen 
kann, und es würde praktisch zu Kollisionen zwischen dem Reich und den 
Einzelstaaten führen. Natürlich muß die Kompetenz des Einzelstaates 
weichen, sobald das Reich im Rahmen seiner verfassungsmäßigen Macht- 
befugnisse seine Staatsgewalt auf das fragliche Gebiet ausdehnt; Art. 2 
R.V. vgl. Laband 1 S. 123 wo — nach Waitz Politik S. 171 — 
folgende Außerung angeführt ist, die der Abg. v. Radowitz mit Beziehung 
auf die i. J. 1849 geplante Verfassung getan hat: 
„Daher steht in gewissen Beziehungen jeder Deutsche unter der Central= 
gewalt (des Reichs), in anderen Beziehungen unter der einzelnen Staats- 
gewalt, in keiner Beziehung aber unter beiden zugleich.“ 
Der aus dem Wesen des Bundesstaats sich ergebenden doppelten 
Staatsgewalt entspricht ein doppeltes Indigenat, ein Verhältnis, das bei 
Schulze Preußisches Staatsrecht II S. 358 treffend durch folgenden Satz 
dargestellt wird: „während in einem Einheitsstaate ein doppeltes Indigenat 
in diesem und zugleich in einem fremden Staate sich als Irregularität 
darstellt, hat in einem Bundesstaate jeder Bürger mit Notwendigkeit ein 
doppeltes Indigenat, wie sich sein ganzes politisches Leben in einer zwei- 
fachen Sphäre, der des Centralstaates und der des Einzelstaates bewegt." 
Jeder Deutsche ist in Angelegenheiten, welche die Verwaltung der Gerichts- 
barkeit, der Polizei, des Militär= und direkten Steuerwesens betreffen,
	        
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