Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

86 II. Reichsgesetzgebung. Art. 3. 
Rückfichten der Politik und des Gefühls diese Bezeichnung für die Angehörigen 
anderer Bundesstaaten vermeidet — aber ebensowenig kann es zweifelhaft 
sein, daß für Deutsche diejenigen Bestimmungen, welche die Ausländer 
schlechter stellen als die Einheimischen für aufgehoben gelten, namentlich 
bezieht sich dies auf die sogen. Retorfionsbestimmungen, auf Grund deren 
Privatpersonen des Auslands in rechtlicher Beziehung absichtlich ungünstig 
behandelt werden, um dadurch auf die Staatspolitik des Auslands einen 
Druck auszunben. In diesem Sinne treffen noch jetzt nachstehende Aus- 
führungen des Bundesratsausschusses für Justizwesen v. 12. Dez. 1868 
(Hirth's Annalen Bd. 2 S. 14 ff.) zu: 
„Nach dem materiellen bürgerlichen Recht aller Bundesstaaten ist die 
Anwendbarkeit der einzelnen Gesetze und Rechtsregeln im allgemeinen 
keineswegs davon abhängig, daß der Beteiligte nicht ein Ausländer, 
sondern ein Inländer ist. Der Grundsatz unterliegt allerdings einigen 
Ausnahmen; allein die Ausnahmen sind doch nur in seltenen Fällen von 
der Beschaffenheit, daß sie die Annahme einer Benachteiligung der Aus- 
länder oder einer Bevorzugung der Inländer zu begründen vermöchten 
. . Sgo unleugbar es ist, daß der Art. 3 der Bundesverfasffung die 
Anwendbarkeit derjenigen Gesetze nicht ausschließt, welche nur Rechts- 
verschiedenheiten, aber keine Rechtsungleichheit (d. h. keine Benachteiligung) 
bestimmen, ebensowenig kann es einem Bedenken unterliegen, diejenigen 
Vorschriften, welche in der Tat die Ausländer einer ungleichen, nach den 
Grundsätzen des internationalen Rechts zur Retorfion berechtigenden Be- 
handlung unterwerfen, auf Bundesangehörige nicht mehr für anwendbar 
zu erachten.“ » 
In Verfolg dieses Standpunktes und in Übereinstimmung mit den 
Ausführungen bei Johow Entsch. des Kammergerichts Bd. 15 S. 434 ist 
anzunehmen, daß dort, wo das Preußische Landrecht und die Preußische 
allgemeine Gerichtsordnung, die in manchen Beziehungen noch gelten, von 
„Königlichen Untertanen“ sprechen und Personen, die nicht zu diesen Unter- 
tanen gehören, schlechter stellen, diese Bestimmungen auf die Angehörigen 
anderer Bundesstaaten nicht mehr anzuwenden find. 
10. Die Bedeutung der Worte „und demgemäß“. 
Es kann zweifelhaft sein, ob die durch die Worte „und demgemäß“ 
eingeleitete Anführung einzelner aus dem gemeinsamen Indigenat sich er- 
gebender Befugnisse nur eine Aufzählung von Beispielen darstellt oder ob 
es sich dabei um eine erschöpfende Bezeichnung der rechtlichen Folgen des 
gemeinsamen Indigenats handelt. In der an den Reichstag gerichteten 
Thronrede v. 28. Mai 1870 (St.B. 1205) findet sich folgender Satz: 
„Ihrer Tätigkeit verdankt Norddeutschland die Verwirklichung der 
wichtigsten Konsequenzen des gemeinsamen Indigenats, der Frei- 
heit der Niederlassung, des Erwerbs von Grundbesitz und des Betriebes 
der Gewerbe, die Regelung der Bedingungen für den Erwerb und 
Verlust der Bundesangehörigkeit und der Staatsangehörigkeit, die Be- 
seitigung der mehrfachen Besteuerung desselben Einkommens, die Auf- 
hebung der polizeilichen Beschränkungen der Eheschließung und die Be- 
seitigung der Abhängigkeit staatsbürgerlicher Rechte von konfessionellen 
Unterschieden."
	        
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